Freitag, 26. November 2010
Kommentar Schulfreunde
Mittwoch, 24. November 2010
Kommentar Zauberkunst
Von der Zauberkunst
Montag, 15. November 2010
Kommentar Geduldsspiel
Geduldsspiel
Kommentar Wilde
Jene Wilden
Kommentar Neumond
Kommentar Schreibe wieder
Kommentar Riva
Flucht aus Riva
Kommentar Verloren
Als ich verloren ging
Kommentar Genießer
Der Genießer
Kommentar Abschied
Kommentar Bauträume
Bauträume
Sonntag, 14. November 2010
Isabella Kommentar
Isabella
Kommentar
Es ist Isabella, der Apfelschimmel, das alte Pferd, ich hätte sie in der Menge nicht erkannt, sie ist eine Dame geworden, wir trafen einander letzthin in einem Garten bei einem Wohltätigkeitsfest. Es ist dort eine kleine, abseits liegende Baumgruppe, die einen kühlen beschatteten Wiesenplatz einschließt, mehrere schmale Wege durchziehen ihn, es ist zuzeiten sehr angenehm, dort zu sein. Ich kenne den Garten von früher her und als ich des Festes müde war, bog ich in jene Baumgruppe ein. Kaum trete ich unter die Bäume, sehe ich von der andern Seite eine Dame von mächtigem Format mir entgegenkommen, starke abfallende Schultern und eine geradezu furchteinflößende Büste von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord gesehen hat; abgesehen davon aber wies ihre ganze Erscheinung eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Herzog von Wellington auf. Ihre Größe machte mich fast bestürzt, es war niemand sonst in der Nähe, mit dem ich sie hätte vergleichen können, aber ich war überzeugt, daß ich keine Frau kannte, welche dieser nicht um mehrere Kopflängen – im ersten Staunen dachte ich gar um unzählige – nachstehen müßte. Aber als ich näher kam, war ich bald beruhigt. Isabella, die alte Freundin! Wie bist du denn aus deinem Stall entwichen? Ach, es war nicht schwer, ich werde ja eigentlich nur gnadenweise noch gehalten, meine Zeiten sind vorüber; erkläre ich meinem Herrn, daß ich, statt unnütz im Stall zu stehn, nun auch noch ein wenig die Welt kennenlernen will, solange die Kräfte reichen, erkläre ich das meinem Herrn, versteht er mich, sucht einige Kleider der Seligen aus, hilft mir noch beim Anziehn und entläßt mich mit guten Wünschen. Wie schön du bist! sage ich, nicht ganz ehrlich, nicht ganz lügnerisch. In ihrer jetzigen Wohnung stehen und sitzen überall eine Unzahl von Puppen herum, sorgsam herausgeputzt und meistens mit Kopfbedeckung, sie liegen auch auf dem Bett, in dem sie schläft, wenn sie überhaupt schläft und nicht nur die ganze Nacht leise singend mit den Puppen spielt. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Nachbarn einigermaßen an sie gewöhnt hatten, denn bisweilen dringt aus ihrer Wohnung bis in den ersten Stock hinauf ohne jeden äußeren Anlaß ein seltsam wieherndes Lachen oder auch lachendes Wiehern und geht tatsächlich durch Mark und Bein. Insgeheim träumt das alte Mädchen von einer Verehelichung mit dem Dr. Bucephalus, in dessen Äußerem nur noch wenig erinnert an die Zeit, da er Streitroß Alexanders von Macedonien war. Jetzt ist er als Advokat tätig. Tag und Nacht ist er in die Gesetzesbücher zu versenkt. Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern von dem Getöse der Aleksanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.
Über die Alpen
Kommentar
Mir ist Tiepolo wieder in den Sinn gekommen, und die von mir seit langem gehegte Vorstellung, daß er, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Wie immer sein Weg im einzelnen verlaufen sein mag, belegt ist, daß er während der Reise immer wieder von Don Quixote gesprochen hat, der hundert Jahre zuvor auswandern mußte, ganz Spanien lachte über ihn, er war dort unmöglich geworden. Er reiste durch Südfrankreich, wo er hier und da liebe Leute traf, mit denen er sich anfreundete, überstieg mitten im Winter unter den größten Mühen und Entbehrungen die Alpen in der entgegengesetzten Richtung, zog dann durch die oberitalienische Tiefebene, wo er sich aber nicht wohlfühlte, und kam endlich nach Mailand. Wie würde es ihm, Tiepolo, im Norden ergehen?
Geduldsspiel
Kommentar
Er ist meist im unteren Darf herumgegangen und hat den Leuten bei der Arbeit zugeschaut. Es kam nur selten vor, daß er selber ein Werkzeug in die Hand nahm und ein wenig im Hof oder im Garten herumstocherte. Es lag schon viele Jahre zurück, daß er nach und nach um den Verstand gekommen war. Es hatte damit angefangen, daß er sei8n Handwerk mehr und mehr vernachlässigte, Aufträge zwar noch annahm, aber nur zur Hälfte oder gar nicht mehr ausführte. Weitaus mehr als mit der Arbeit beschäftigte er sich mit einem Geduldspiel, einem billigen einfachen Spiel, nicht viel größer als eine Taschenuhr und ohne irgendwelche überraschende Einrichtungen. In der rotbraun angestrichenen Heizfläche waren einige blaue Irrwege eingeschnitten, die in eine kleine Grube mündeten. Die gleichfalls blaue Kugel war durch Neigen und Schütteln zunächst in einen der Wege zu bringen und dann in die Grube. War die Kugel in der Grube, dann war das Spiel zu Ende, wollte man es von neuem beginnen, mußte man die Kugel wieder aus der Grube schütteln. Bedeckt war das Ganze von einem starken gewölbten Glas, man konnte das Geduldspiel in die Tasche stecken und mitnehmen und wo immer man war, konnte man es hervornehmen und spielen. War die Kugel unbeschäftigt, so ging sie meistens, die Hände auf dem Rücken, auf der Hochebene hin und her, die Wege vermied sie. Sie war der Ansicht, daß sie während des Spieles genug mit den Wegen gequält werde und daß sie reichlichen Anspruch darauf habe, wenn nicht gespielt würde, sich auf der freien Ebene zu erholen. Manchmal sah sie gewohnheitsmäßig zu dem gewölbten Glase auf, doch ohne die Absicht, oben etwas zu erkennen. Sie hatte einen breitspurigen Gang und behauptete, daß sie nicht für die schmalen Wege gemacht sei. Das war zum Teil richtig, denn die Wege konnten sie wirklich kaum fassen, es war aber auch unrichtig, denn tatsächlich war sie sehr sorgfaltig der Breite der Wege angepaßt, bequem aber durften ihr die Wege nicht sein, denn sonst wäre es kein Geduldspiel gewesen. Der Eigentümer des Spiels ist dann in dem Jahr, in dem die Sägmühle abgebrannt ist, ins Spital eingeliefert worden, weil auf einmal kein Mensch mehr irgend etwas zu essen in ihn hineinbrachte. Aber auch im Spital hat er sich nicht halten lassen, sondern ist in der ersten Nacht auf und davon unter Hinterlassung eines Zettels, auf dem gestanden sein soll: Hochgeehrter Herr Doktor! Ich bin ins Mährische gegangen. Mit vorzüglicher Hochachtung ...
Ein großes Fahnentuch
Kommentar
Die entscheidende Wendung dieser Schlacht in der lombardischen Landschaft, in deren Entfernung graue und blaue Farbbänder sich immer feiner voneinander absonderten, um sich zuletzt am Horizont in einer Art Höhenrauch aufzulösen, wurde herbeigeführt von einer furiosen Reiterattacke, die, als alles bereits verloren schien, die feindliche Hauptmacht im Licht der niedergehenden Sonne von der Seite her aufriß. Ein großes Fahnentuch lag auf ihm, er arbeitete sich mühselig hervor. Er fand sich auf einer Anhöhe, Wiesenland und kahler Felsen wechselten ab. Ähnliche Anhöhen zogen sich wellenförmig nach allen Himmelsrichtungen, die Aussicht ging weithin, nur im Westen löste Dunst und Glanz der jetzt halb schon untergegangenen Sonne alle Formen auf. Der erste Mensch, den er sah, war sein Kommandant, er saß auf einem Stein, die Beine gekreuzt, den Ellbogen aufgestützt, den Kopf in der Hand, und schlief. Zurückdenkend an diesen Septembertag, der zweifellos ein Tag des Sieges gewesen war, schien es ihm späterhin oft, als habe er die folgenden Jahre, sämtliche Kampagnen und Katastrophen damals vorausgesehen, und als sei ihm zu diesem Zeitpunkt klar geworden, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können. Jedenfalls war es in jenen Herbstwochen gewesen, daß er den Entschluß faßte, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden.
Custodes Georgii
Kommentar
llegar al corazón de la selva evitando las ciénagas
Kommentar Kriminalfall
Kriminalfall
Kommentar
Die Straße, in der das Verbrechen geschehen ist, liegt ziemlich weit draußen am Rande der Stadt. Unweit einer großen Kreuzung, an der immer der Verkehr sich staut und wo auf den Gehwegen an Samstagen die Kleider- und Stoffhändler ihre Stände aufschlagen und Hunderte von Menschen sich drängen, verläuft sie, eine auffallend stille Gasse parallel zu der breiten Ausfallstraße. Gleich an der Ecke ein niedriger festungsartiger Wohnblock, dann ein grasgrüner Kiosk, in dem, obwohl die Waren offen ausliegen, kaum je ein Verkäufer zu sehen ist, ein von einem gußeisernen Zaun umgebener und, wie man meinen konnte, von niemandem je betretener Rasenplatz und schließlich eine mannshohe, zirka fünfzig Meter lange Ziegelmauer auf der rechten Seite, an deren Ende sich das Haus mit der Wohnung des Advokaten Monderry und seiner Frau befand. In der sehr geräumig wirkenden Wohnung gab es nur das Nötigste an Mobiliar und weder Vorhänge noch Teppiche. Die Wände waren in einem hellen, die Dielen in einem dunkleren Mattgrau gestrichen. In dem Vorderzimmer stand, außer einer alten Ottomane, einzig ein großer, gleichfalls mattgrau lasierter Tisch. Der Tatbestand, der rücksichtlich des plötzlichen Todes des Advokaten Monderry zunächst festgestellt wurde, war folgender: Eines Morgens gegen halb fünf Uhr, es war ein schöner Junimorgen und schon ganz hell, lief Frau Monderry aus ihrer Wohnung im dritten Stockwerk, beugte sich über das Treppengeländer und rief mit ausgebreiteten Armen, offenbar in der Absicht, das ganze Haus zu Hilfe zu rufen: Mein Mann ist ermordet worden! Gnade! Gnade! Mein guter Mann ist ermordet worden! Der erste, der Frau Monderry sah und hörte, war ein Bäckerjunge, der gerade zu dieser Zeit, in beiden Händen einen großen Korb mit Semmeln, die letzten Stufen zum dritten Stockwerk erstieg. Er war es auch, der beim ersten Verhör behauptete, den Anruf der Frau Monderry wortgetreu im Gedächtnis behalten zu haben. Später jedoch, als er Frau Monderry gegenübergestellt wurde, nahm er diese Aussage zurück und erklärte, er könne sich doch getäuscht haben, da er im ersten Augenblick allzusehr über die Erscheinung der Frau erschrocken sei. Das war allerdings sehr wahrscheinlich, denn noch nach Wochen war er, wenn er den Vorfall darstellte, so erregt, daß er seine Erzählung mit übertriebenen Bewegungen der Hände und Füße begleitete, um beim Zuhörer wenigstens einen Eindruck zu erzeugen, der annähernd an jenen heranreichte, den er in sich bewahrte. Nach seiner Erzählung war Frau Monderry aus der Tür, deren Öffnen er gar nicht bemerkt hatte und von der er daher glaubte, daß sie schon vorher offen gewesen war, mit einem Schrei herausgeflogen, habe ihre über dem Kopf ineinandergekrampften Hände auseinandergerissen und war zum Geländer geeilt. Sie war mit nichts anderem bekleidet gewesen als mit dem Nachthemd und einem kleinen grauen Tuch, das aber nicht einmal ihren Oberkörper vollständig verhüllte. Ihr Haar war aufgelöst und hing ihr zum Teil über das Gesicht herab, was auch dazu beitrug, ihren Ausruf undeutlich zu machen. Kaum erblickte sie den Bäckerjungen, als sie zur Treppe lief, ihn mit zitternden Händen zu sich emporzog, hinter ihn trat und ihn als eine Art Schutz vor sich her schob, während sie seine Schultern umklammert hielt. In der Eile dachte der Junge nicht daran, daß er den Korb mit Semmeln irgendwo hinstellen könne und ließ ihn die ganze Zeit über nicht aus den Händen. So gingen sie – die Frau preßte in steigender Angst den Jungen immer fester an sich – mit schnellen, aber ganz kurzen Schritten der Wohnungstüre zu, überschritten die Schwelle und rückten im dunklen schmalen Vorderzimmer vor. Immer war das Gesicht der Frau rechts oder links vom Jungen vorgebeugt, sie schien auf etwas zu lauern, das sich gleich zeigen müsse, manchmal riß sie den Jungen zurück, als wäre es unmöglich weiter vorzugehn, dann aber drückte sie ihn doch wieder mit ganzem Körper vorwärts. Die erste Zimmertür, die auf ihrem Wege lag, öffnete die Frau mit einer Hand, mit der andern hielt sie sich hinten am Halse des Jungen fest. Sie überblickte den Boden, die Wände und die Zimmerdecke, fand nichts, ließ die Tür offen und ging nun entschlossener, immer noch mit dem Jungen, zur nächsten Tür. Diese stand schon weit offen. Beim Eintritt sah man nicht viel mehr als zwei nebeneinander stehende Betten. Das Zimmer war dunkel, nur ein Schimmer des noch schwachen Tageslichtes drang herein. Auf dem Nachttischchen bei dem der Tür zunächst stehenden Bett brannte ein kleiner Kerzenstumpf. An diesem Bett war auch nichts Ungewöhnliches zu sehn, in dem andern aber mußte etwas geschehen sein. Jetzt war es der Junge, der nicht vorwärts wollte, aber die Frau stieß ihn mit Fäusten und Knien vor. Bei einem Verhöre wurde er gefragt, warum er gezögert habe, ob vielleicht aus Furcht vor dem, was er in dem Bett etwa zu sehen erwartet hatte. Darauf antwortete er, er fürchte sich überhaupt nicht und habe sich auch damals nicht gefürchtet, aber er habe damals das Gefühl gehabt, als halte sich etwas irgendwo im Zimmer versteckt und könne plötzlich hervorspringen. Dieses Etwas, das er nicht näher beschreiben konnte, habe er zunächst erwarten wollen, ehe er vorwärtsging. Da aber der Frau so viel daran zu liegen schien, zum zweiten Bett zu kommen, gab er schließlich nach.
Kommentar Alpen
Die Schwindel.Gefühle sind ein Buch der Alpenüberquerungen in beiden Richtungen, von Norden nach Süden und von Süden nach Norden. Kafka zählt zu den Gebirgsgängern, und in seiner unvergleichlichen, dem Absurden die Absurdität abstreifenden Art gelingt es ihm, auch Don Quijote, mit dem er sich mehr als einmal beschäftigt hat, über die Pässe und Gipfel zu locken. Ähnlich wie Kafka fühlt sich der Kastilier in Oberitalien nicht wohl, jedenfalls nicht, bevor er Mailand erreicht, was dort geschieht erfahren wir nicht. Kein Wunder, wenn Don Quijotes Reise Tiepolo zu denken gibt, als er seine italienische Heimat in Richtung Norden verläßt.
Dorngebüsch
Kommentar
Mehr als ein Jahr lang bin ich bei Einbruch der Dunkelheit außer Haus gegangen, immer fort und fort, quer durch alle Stadtteile, auch hinaus auf die Heide, südwärts über den Fluß oder nach Westen in den großen Park. Man kann ja tatsächlich zu Fuß in einer einzigen Nacht fast von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachtgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, daß überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Nun aber war ich, als Strafe dafür, wie mir durch den Sinn schoß, mich nicht an diese Vereinbarung gehalten zu haben, in ein undurchdringliches Dorngebüsch geraten und rief laut den Parkwächter. Obwohl tiefe Nacht, kam er gleich, konnte aber nicht zu mir vordringen. Wie sind Sie denn dort mitten in das Dorngebüsch gekommen, rief er, können Sie nicht auf dem gleichen Weg wieder zurück? Unmöglich, rief ich, ich finde den Weg nicht wieder. Ich bin in Gedanken ruhig spazierengegangen und plötzlich fand ich mich hier, es ist, wie wenn das Gebüsch erst gewachsen wäre, nachdem ich hier war. Ich komme nicht mehr heraus, ich bin verloren. Sie sind wie ein Kind, sagte der Wächter, zuerst drängen Sie sich auf einem verbotenen Weg durch das wildeste Gebüsch und dann jammern Sie. Sie sind doch nicht in einem Urwald, sondern im öffentlichen Park und man wird Sie herausholen. So ein Gebüsch gehört aber nicht in einen Park, sagte ich, und wie will man mich retten, es kann doch niemand herein. Will man es aber versuchen, dann muß man es gleich tun, es ist ja gleich Abend, die Nacht halte ich hier nicht aus, ich bin auch schon ganz zerkratzt von den Dornen, und meine Brille ist mir hinuntergefallen und ich kann ihn nicht finden, ich bin ja halbblind ohne Brille. Das ist alles gut und schön, sagte der Wächter, aber ein Weilchen werden Sie sich noch gedulden müssen, ich muß doch zuerst Arbeiter holen, die den Weg aushacken, und vorher noch die Bewilligung des Herrn Parkdirektors einholen. Also ein wenig Geduld und Männlichkeit, wenn ich bitten darf. Auf der Heimkehr von meiner nächtlichen Exkursion, Stunden später nach der glücklichen Befreiung, begann ich durch eine Art von treibenden Rauch oder Schleier hindurch Farben und Formen verminderter Körperlichkeit zu sehen, Bilder aus einer verblichenen Welt. Zurückgefahren bin ich schließlich mit der Untergrundbahn, zusammen mit all den armen Seelen, die um diese Zeit zurückfluten von der Peripherie in die Mitte.
Kommentar Operngucker
Der Versuch, bei Sebald einen Textrahmen für eine Streitszene zu finden, scheint aussichtslos. Sebalds Menschen streiten sich nicht. Sie stehen gemeinsam in einem abgrundtiefen Abstand zur Alltäglichkeit der Welt, jeder Gedanke eines Streits würde in diesem Abgrund sang- und klanglos verschwinden. Soll sich der Major Wyndham Le Strange mit Mrs. Ashbury streiten oder Mme Landau mit dem Richter Farrar, der heilige Georg gar mit dem heiligen Antonius. Georg ist natürlich von Haus aus ein Streiter, aber nun hat der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht. Noch weniger werden Sebalds Menschen sich mit jemandem streiten, der nicht zu ihnen gehört, auf welchem gemeinsamen Boden auch. Allenfalls einem Angehörigen des aus der historischen Realität in Sebalds Welt eingewanderten Personals wie Stendhal ist der Streit um ein Opernglas überhaupt zumutbar. Immerhin ist der durch das Fehlen des Glases in seiner Leidenschaft für Opernmusik und Frauen erheblich behindert.
Samstag, 13. November 2010
Gesang
Kommentar
Was sich jetzt sauber herausgeputzt als eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit darbot, war seinerzeit ein übel beleumundetes Wirtshaus gewesen, damals eine kleines Gebäude nur, ebenerdig, ringsum war Leere. Die Bauern hockten dort bis tief in die Nacht hinein und tranken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit in der rauchverhangenen Gaststube, unter deren Decke das verschlungenste Ofenrohr entlanglief, das man je irgendwo gesehen hatte. Eines Abends kam nicht das übliche laute Grölen, sondern ein feiner vielstrophiger Gesang aus dem Wirtshaus, ein Fenster war geöffnet, es war nicht eingehakt und schwankte hin und her. Es kam ein später Gast, schleichend, auf den Fußspitzen, in enganliegendem Kleid, tastete sich vor wie im Finstern und es war doch Mondlicht, horchte am Fenster, schüttelte den Kopf, verstand nicht, wie dieser schöne Gesang aus einer solchen Kneipe kam, schwang sich rücklings auf das Fensterbrett, unvorsichtig wohl, denn er konnte sich nicht oben erhalten und fiel gleich ins Innere, aber nicht tief, denn beim Fenster stand ein Tisch. Die Weingläser flogen zu Boden, zwei Männer, die bei dem Tisch gesessen waren, erhoben sich und warfen kurz entschlossen den neuen Gast, die Füße hatte er ja noch außen, wieder durch das Fenster zurück, er fiel in weiches Gras, stand gleich auf und horchte, aber der Gesang hatte aufgehört.
Freitag, 12. November 2010
Autobiographie
Kommentar
Den Kopf gegen die Wand gelehnt und ab und zu langsam durchatmend, wenn die Übelkeit in mir aufstieg, hatte ich einige Zeit schon die Arbeiter in den Goldminen der City beobachtet, die sich zu dieser frühen Abendstunde hier, an ihrem gewohnten Trinkplatz, einfanden, alle einander ähnlich, in ihren nachtblauen Anzügen, gestreiften Hemdbrüsten und grellfarbenen Krawatten, und indem ich versuchte, die rätselhaften Gewohnheiten dieser in keinem Bestiarium beschriebenen Tierart zu begreifen, ihr enges Beieinanderstehen, ihr halb geselliges, halb aggressives Gehabe, das Freigeben der Gurgel beim Leeren der Gläser, das immer aufgeregter werdende Stimmengewirr, das plötzliche Davonstürzen des einen oder anderen, da bemerkte ich auf einmal, am Rande der schon schwankenden Horde, einen vereinzelten Menschen, der niemand anders sein konnte als der seit bald zwanzig Jahren, wie mir in diesem Augenblick zu Bewußtsein kam, von mir vermißte K. Ohne Auch nur ein Wort zu verlieren über unser nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgtes Zusammentreffen hat er, ohne mit irgendwelchen Präliminarien sich aufzuhalten, das Gespräch mehr oder weniger dort wieder aufgenommen, wo es einst abgebrochen war. Das Schreiben versagt sich mir, so K. Daher Plan der selbstbiographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen, so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen will, womöglich aus dem Material des alten. Schlimm ist es allerdings, wenn mitten im Bau seine Kraft aufhört und er jetzt statt eines zwar unsichern aber doch vollständigen Hauses, ein halbzerstörtes und ein halbfertiges hat, also nichts. Was folgt ist Irrsinn, also etwa ein Kosakentanz zwischen den zwei Häusern, wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde so lange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet.
Winterbuch
Kommentar
Hochmut
Kommentar
Nachdem ich das Museum verlassen hatte, saß ich eine Zeitlang auf einer steinernen Bank auf der Piazza, die eigentlich nur ein kleiner, zwischen hohen Häusern gelegener Baumgarten war, wo Eukalyptus und Oleander, Fächerpalmen und Lorbeer und Myrthen eine Oase bilden inmitten der Stadt. Der Garten war durch ein Gitter getrennt von der Gasse, auf deren anderer Seite die geweißelte Front eines Hauses über die der Nachbargebäude emporragte. Der Nachmittag neigte sich bereits seinem Ende zu, als ich endlich die Gasse überquerte. An der einen Seite des Gebäudes war ein schmaler, niedriger, rundgewölbter, ebenfalls weiß getünchter Gang, ich stand vor seinem Eingang, er führte schief in die Tiefe. Ich wußte nicht, ob ich eintreten sollte, unschlüssig zerrieb ich mit meinen Füßen das schüttere Gras, das vor dem Eingang wuchs. Da kam ein Herr vorüber, wohl zufällig, er war ein wenig gebückt, aber willkürlich, weil er mit mir sprechen wollte. Wohin denn, mon cher? fragte er. Noch nirgendhin, sagte ich und blickte in sein fröhliches, aber hochmütiges Gesicht – es wäre hochmütig gewesen auch ohne das Monokel, das er trug – noch nirgendhin. Ich überlege erst.
Ritorno in Patria
Kommentar
Er konnte also, bloß mit dem kleinen ledernen Rucksack über der Schulter ,durch die an das Niemandsland grenzenden Moorwiesen und den Absteigtobel hinab nach K. und von dort über den Bach und an der Mühle vorbei nach V. hinausgehen. Immer wieder, wenn die Luft von droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter wurde, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es als den des Wassers im Talgrund, keinen Vogelschrei, nichts. Und dann lag schon die Ebene vor ihm. und in der Ferne, weit im Blauen auf einem kleinen Hügel, kaum zu erkennen, das Haus, zu dem er strebte. Aber es dauerte noch bis zum Abend und viele Male war ihm während des Tages das Ziel aus dem Blick entschwunden, bis er auf schon dunkelndem Feldweg plötzlich am Fuße jenes Hügels stand. Da ist also mein Haus, sagte er sich, ein kleines altes klägliches Haus, aber es ist meines, und in ein paar Monaten soll es anders aussehn. Und er stieg zwischen Wiesen den Hügel hinauf. Die Tür war offen, ja sie konnte gar nicht geschlossen werden, denn der eine Türflügel fehlte. Eine Katze, die auf der Schwelle gesessen hatte, verschwand mit großem Geschrei, so schreien Katzen sonst nicht. Die Türen der zwei Räume rechts und links von der Treppe waren offen, mit ein paar halbzerbrochenen alten Möbelstücken ausgestattet, sonst leer. Aber von oben, von der Treppe herab, die sich im Finstern verlor, fragte eine zitternde, fast röchelnde Stimme, wer gekommen sei. Er machte einen großen Schritt über die ersten drei Stufen, die in der Mitte zerbrochen waren – sonderbarerweise sahen die Bruchstellen frisch aus, als sei es heute oder gestern geschehn –, und stieg hinauf. Auch oben war die Zimmertür offen.
Vestalin der Versenkung
Kommentar
Ich hatte mich, von den Bergen herabkommend, in einem kleinen dämmrigen Laden nach einer Unterkunftsmöglichkeit erkundigt und war von dem Ladeninhaber, der einen seltsamen zimtfarbenen Übermantel aus dünnem Kattunstoff trug, in ein langes Gespräch verwickelt worden, das sich, wie ich mich noch entsinne, um die Gravitationslehre Newtons drehte. Auch was mein Nachtquartier anbelangte, wußte er Rat und konnte mich sogar einen Teil der Wegstrecke. in seinem Lieferwagen mitnehmen zu den Achenbachs, die nach seinen Worten B&B anboten. Nur eine geringe Strecke hatte ich noch zu laufen und kam doch atemlos an. Eine Stange war ein wenig schief in den Boden gerammt und trug eine Tafel mit der Aufschrift Versenkung. Ich dürfte am Ziel sein, sagte ich mir und blickte mich um; die Frage der Unterkunft war vergessen und kümmerte mich schon nicht mehr. Nur ein paar Schritte weit war eine unscheinbare, dicht mit Grün überwachsene Gartenlaube, aus der ich leichtes Tellerklappern hörte. Ich ging hin, steckte den Kopf durch die niedrige Öffnung, sah kaum etwas in dem dunklen Innern, grüßte aber doch und fragte: Wissen Sie nicht, wer die Versenkung besorgt? Ich selbst, Ihnen zu dienen, sagte eine freundliche Stimme, ich komme sofort. Nun erkannte ich langsam die kleine Gesellschaft, es war ein junges Ehepaar, drei kleine Kinder, die mit der Stirn kaum die Tischplatte erreichten, und ein Säugling, noch in den Armen der Mutter, die ein verblaßtes rotes Sommerkleid trug und so eigenartig steif da stand, als sei sie über dem Anblick des unangemeldet erschienenen Fremden aus der Bewegung heraus erstarrt. Mit weit offenen Augen sah sie mich an oder sah vielmehr durch mich hindurch. Der Mann, der in der Tiefe der Laube saß, wollte gleich aufstehn und sich hinausdrängen, die Frau aber bat ihn herzlich, zuerst das Essen zu beenden, er jedoch zeigte auf mich, sie wiederum sagte, ich werde so freundlich sein und ein wenig warten und ihnen die Ehre erweisen, an ihrem armen Mittagessen teilzunehmen, ich schließlich, äußerst ärgerlich über mich selbst, der ich hier die Sonntagsfreude so häßlich störte, mußte sagen: Leider leider, liebe Frau, kann ich der Einladung nicht entsprechen, denn ich muß mich augenblicklich, ja wirklich augenblicklich versenken lassen. Ach, sagte die Frau, gerade am Sonntag und noch beim Mittagessen. Ach die Launen der Leute. Die ewige Sklaverei. Zanken Sie doch nicht so, sagte ich, ich verlange es ja von Ihrem Mann nicht aus Mutwillen, und wüßte ich, wie man es macht, hätte ich es schon längst allein getan. Hören Sie nicht auf die Frau, sagte der Mann, der schon neben mir war und mich fortzog. Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen. Als sie daraufhin ohne ein Wort davonging über die steinernen Fliesen, fiel mir auf, daß sie barfuß war. Lautlos verschwand sie im Dunkel des Hintergrunds, und ebenso lautlos kam sie nach ein paar Minuten, die mir mit keinem Maß zu messen schienen, aus dem Dunkel als eine Vestalin der Versenkung wieder hervor.
Donnerstag, 11. November 2010
Arztbesuch
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Der Kranke war viele Stunden allein gelegen, das Fieber war ein wenig zurückgegangen, hie und da hatte er einen leichten Halbschlaf einfangen können, im übrigen hatte er, da er sich vor Schwäche nicht rühren konnte, zur Decke hinaufgesehn und gegen viele Gedanken kämpfen müssen. Sein Denken schien überhaupt nur in Abwehr zu bestehn, alles, woran er zu denken anfing, langweilte oder quälte ihn und er verbrauchte seine Kraft damit, sein Denken zu ersticken. Es war gewiß schon Abend, jedenfalls war es schon lange finster, da es November war, als sich die Tür des Nebenzimmers öffnete, die Vermieterin hereinschlüpfte, um das elektrische Licht aufzudrehn, und der Arzt ihr folgte. Es war nicht, wie erwartet, der Dr. R., der aus einer mährischen Stadt, soweit bekannt aus Nikolsburg, mit seiner blassen Frau und seinen beiden halbwüchsigen Töchtern Felicia und Amalia nach P. gekommen war, sondern um den sicher schon auf die Siebzig gehenden Dr. P., den man zu jeder Tages- und Nachtzeit auf seiner siebenhundertfünfziger Zündapp im Ort herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren sehen konnte. Bei seinem Anblick wunderte der Kranke sich, wie wenig krank er eigentlich war oder wie wenig die Krankheit ihn angriff, denn er erkannte den Eintretenden ganz genau, keine seiner bekannten Einzelheiten fehlte, ja nicht einmal jene, welche ihm Gefühle einer unbestimmten Art, der Öde einerseits und einer fragwürdigen Ewigkeit andererseits, zu erregen pflegten, erschienen irgendwie übertrieben, alles war, wie es immer war.
November
Kommentar
Mittwoch, 10. November 2010
Die höhere Schule
Auf der Brücke
Kommentar
No faltaban puentes per donde correr
Neumond
Kommentar
In einer Neumondabend ging ich aus einem Nachbardorf nach Hause. Als ich aus dem Wald herauskam, war es vollends Nacht geworden. Aus den Wiesen stiegen die weißen Nebel, und drunten an dem nunmehr ein gutes Stück weit entfernten Flußlauf erhob sich die schwarze Sägmühle, die vor langen Jahren, unmittelbar nach meiner Einschulung, mit ihrem gesamten Holzlager in einem großen, das ganze Tal erleuchtenden Feuer niederbebrannt war. Das Dunkel senkte sich jetzt auch über die Straße. Es war nur noch ein kurzer Weg auf gerader, völlig dem Monde ausgesetzter Landstraße, man sah jede Kleinigkeit auf dem Boden genauer als bei Tag. Ich war nicht mehr weit von der kleinen Pappelallee, an deren Ende dann schon unsere Dorfbrücke sich anschließt, da sah ich ein paar Schritte vor mir – ich mußte geträumt haben, daß ich es nicht früher gesehen hatte –, einen kleinen Verschlag aus Holz und Tuch, ein kleines, aber sehr niedriges Zelt, Menschen hätten darin nicht aufrecht sitzen können. Es war völlig abgeschlossen; auch als ich es ganz nahe umging und betastete, fand ich keine Lücke. Man sieht auf dem Land mancherlei und lernt daraus, auch Fremdes leicht zu beurteilen, aber wie dieses Zelt hierhergekommen war und was es sollte, konnte ich nicht verstehn. Eine junge zigeunerartige Frau macht vor dem Altar aus Federbetten und Decken ein weiches Lager zurecht. Sie ist bloßfüßig, hat einen weißgemusterten roten Rock, eine weiße, hemdartige, vorn nachlässig offene Bluse und wild verschlungene braune Haare. Auf dem Altar steht ein Waschbecken.
Die Kartenspieler
Kommentar
Dienstag, 9. November 2010
Bei Tisch
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Die Schauspielerin
Im Ständetheater hatte sie im Herbst ihren ersten Auftritt in der Rolle der Olympia, von der sie seit Beginn ihrer Laufbahn schon träumte. Mitte Oktober, als die Operette fertig einstudiert war, ging ich in die Generalprobe und bin im Parkett genau unter dem Zenit der Kuppel gesessen. Rings um mich stiegen die Ränge, deren goldener Zierat durch das Dämmer blinkte, in die Höhe hinauf. Erst nach einer gewissen Zeit, als irgend jemand hinter dem zugezogenen Vorhang geschwind über die Bühne gehuscht war und durch sein eiliges Laufen eine Wellenbewegung in den schweren Stoffballen ausgelöst hatte, begannen sich die Schatten zu regen und ich sah drunten im Orchestergraben den befrackten, käferartigen Dirigenten und andere schwarze Figuren, die mit allerlei Instrumenten hantierten, hörte ihr Durcheinanderspielen beim Stimmen und glaubte auf einmal, zwischen dem Kopf eines der Musikanten und dem Hals eines Baßgeige hindurch, in dem hellen Lichtstreif zwischen dem Bretterboden und dem Saum des Vorhangs ihren himmelblauen, mit Silberfutter bestickten Schuh zu erblicken. Es war schon spät in der Nacht, als ich den Wagen, der sie aus der anderen Welt zurückbrachte, vor der Haustür anhalten hörte. Endlich trat sie ins Zimmer und setzte sich zu mir nieder, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehten Parfum und Staub gemischten Theatergeruch. Von der Theaterprofession dürfe ich mir wirklich keine idyllischen Vorstellungen machen, sagte sie. Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein Morgen im Freien, dann wird gleich dunkel und es ist schon Abend. Das ist kein komplizierter Betrug, aber man muß sich fügen, solange man auf den Brettern steht. Nur ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den Hintergrund zu, die Leinwand durchschneiden und zwischen den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerumpel hinweg in die wirkliche enge dunkle feuchte Gasse sich flüchten, die zwar noch immer wegen der Nähe des Theaters Theatergasse heißt, aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.
Wandermusikanten
Kommentar
Eiche der Erinnerung
Kommentar
Eines Nachmittags im November hatte ich den Beschluß gefaßt, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit in meine Heimatstadt zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Und nun wurde ich in dem am Sonntag vollkommen verlassenen Hotel von einem solch überwältigenden Gefühl der Ziel- und Zwecklosigkeit erfaßt, daß ich, um wenigstens die Illusion einer gewissen Ausrichtung zu haben, mich auf den Weg in das Stadtinnere machte, wo ich dann allerdings planlos herumwanderte zwischen den im Verlauf der Zeit ganz und gar schwarz gewordenen Monumentalbauten aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bin auf dieser Wanderung, während der knappen wirklich taghellen Stunden, in denen das Winterlicht die menschenleeren Straßen und Plätze durchflutete, immer wieder erschüttert gewesen von der Rückhaltlosigkeit, mit der die anthrazitfarbene Stadt die Spuren ihrer augenscheinlich chronisch gewordenen Verarmung und Degradierung dem Betrachter preisgab. Erfaßt von einer großen Niedergeschlagenheit trieb es mich heraus aus der Stadt ins freie Land, und dann war ich weiter vor die Stadt gekommen, als ich eigentlich gewollt hatte. Und als ich so weit war, trieb es mich noch weiter. Auf einer Anhöhe stand eine alte sehr große Eiche grad wie die des Vercingetorix auf Courbets mir immer besonders lieben Bild. Sie erinnerte mich irgendwie daran, daß es nun endlich aber Zeit sei, zurückzukehren. Es war schon abendlich genug geworden. Ich stand vor ihr, strich über ihre harte Rinde und las zwei eingeritzte Namen. Ich las sie, aber ohne sie mir zu merken, es war wie ein kindlicher Trotz, der mich, wenn ich schon nicht weitergehen sollte, wenigstens hier festhielt, um mich nicht zurückgehn zu lassen. Man ist manchmal im Bann solcher Kräfte, man kann ihn leicht zerreißen, es ist ja nur etwas wie ein zarter Scherz eines Fremden, aber es war Sonntag, nichts war zu versäumen, ich war schon müde und ergab mich deshalb in alles. Nun erkannte ich, daß einer der Namen Josef war und erinnerte mich eines Schulfreundes, der so geheißen hatte. In meiner Erinnerung war er ein kleiner Junge, der kleinste der Klasse vielleicht, er war einige Jahre neben mir in der gleichen Bank gesessen. Er war häßlich gewesen, selbst uns, die wir doch damals mehr Kraft und Geschicklichkeit – und beides hatte er – als Schönheit zu beurteilen verstanden, erschien er sehr häßlich.