Mittwoch, 12. Januar 2011

Kommentar Bibliomanie

Wie alle biologischen Gattungen zerfällt bei näherem Hinsehen auch die Gattung der Bibliophilen in zahllose Arten und Unterarten. Die meisten, sieht man von der Ordnung der gemeinen Lesern mit ihren endlosen Untergliederungen ab, sind zweifellos in der Gruppe der Sammler zumeist kostbarer und seltener Stücke zu finden. Der einsame Besitz des Juwels ist ihre Freude. Kafka macht uns mit einer seltenen, exotischen Art des Bibliomanen bekannt, dem es nicht auf den Besitz und noch weniger auf das Lesen ankommt. Seine Gier zielt darauf, sich durch Betrachtung der bloßen Existenz der Bücher zu versichern. Naturgemäß muß man vor Aufkommen dieser Gier eine gewisse Anzahl von Büchern gelesen haben und wohl auch einige besitzen, so wie man einige Menschen kennen und lieben muß, bevor man Freude haben kann, die Passanten zu betrachten, nachdem man in einem Café auf einem mit marmoriertem roten Plastik bezogenen Küchensessel an einem wackligen Tischchen Platz genommen hat. Selysses - denn niemand anders als er ist der auf so seltsame Art bibliomane Büchernarr - nimmt Platz an einem Fenster der Biblioteca Civica in Verona und ist, ohne aus dem Fenster zu schauen und ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen, glücklich.

Kafka TB 1911

Bibliomanie

1 Kommentar:

Gustav Sucher hat gesagt…

Mein Onkel ist ein fleißiger Leser. Er ließt etwa 100 Bücher im Jahr. Von der exotischen Art des Bibliomanen habe ich bisher nichts gehört. Aber das ist ja gut zu wissen, dass es auch sowas gibt :-). Danke für den Blogbeitrag! http://www.hoko-koll-rechtsanwaelte.de/