Sonntag, 2. Januar 2011

Polarforscher

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In Tyumen holen sie den Polarforscher aus dem Schlitten, schleppen sie seinen zur Hälfte versteinerten Leib aus dem Eis hinein in das Feuer, in ein waberndes Haus. Jetzt fängt Alchimia an, erkennt er den mortem improvisam, den Schlag und all seinen Anhang, sieht seinen Tod, wie er sich spiegelt im Einglas des Feldschers. Um die Wahrheit zu sagen, ihn kümmert die ganze Sache nicht sehr. Er liegt im Winkel, sieht zu, soweit man im Liegen zusehn kann, hört zu, soweit er versteht, im übrigen lebt er in einer Dämmerung und wartet auf die Nacht. Anders sein Zellengenosse - denn wie soll man diese Krankenstube anders nennen als Kerkerzelle -, ein unnachgiebiger Mensch, ein gewesener Kapitän. Er kann sich in seine Verfassung hineindenken. Er ist der Meinung, seine Lage gleiche etwa der eines Polarfahrers, der trostlos irgendwo eingefroren ist, der aber sicher noch gerettet werden wird oder richtiger, der schon gerettet ist, wie man in der Geschichte der Polarfahrten nachlesen kann, denn selbst erlebt hat er dergleichen nicht. Und nun entsteht für ihn, den Kapitän, folgender Zwiespalt: Daß er gerettet werden wird, ist für ihn zweifellos unabhängig von seinem Willen, einfach durch das siegbringende Gewicht seiner Persönlichkeit wird er gerettet werden, soll er es aber wünschen? Sein Wünschen oder Nichtwünschen wird nichts verändern, gerettet wird er, aber die Frage, ob er es auch noch wünschen soll, bleibt. Mit dieser scheinbar so abseits liegenden Frage ist er beschäftigt, er durchdenkt sie, er legt sie ihm, dem Polarforscher, vor, sie besprechen sie. Er begreift nicht, daß diese Fragestellung sein Schicksal endgültig macht. Von der Rettung selbst reden sie nicht. Für die Rettung genügt ihm, dem Kapitän, scheinbar der kleine Hammer, den er sich irgendwie verschafft hat, ein Hämmerchen, um Spannägel in ein Zeichenbrett zu treiben, mehr könnte es nicht leisten, aber er verlangt auch nichts von ihm, nur der Besitz entzückt ihn. Manchmal kniet er neben dem Polarforscher und hält ihm diesen tausendmal gesehenen Hammer vor die Nase oder er nimmt dessen Hand, spreitet sie auf dem Boden aus und behämmert alle Finger der Reihe nach. Er weiß, daß er mit diesem Hammer keinen Splitter von der Mauer schlagen kann - vielleicht ist das vermeintliche Krankenzimmer ja in Wirklichkeit eine Kerkerzelle -, er will es auch nicht, er streicht nur manchmal leicht mit dem Hammer über die Wände, als könne er mit ihm das Taktzeichen geben, das die große wartende Maschinerie der Rettung in Bewegung setzt. Es wird nicht genau so sein, die Rettung wird einsetzen in ihrer Zeit, unabhängig vom Hammer, aber irgend etwas ist er doch, etwas Handgreifliches, eine Bürgschaft, etwas, was man küssen kann, wie man die Rettung selbst niemals wird küssen können.

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