Montag, 10. Januar 2011

Brillenfutterale und Briefschaften

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Mir war, als hätte nicht er diesen kalten Arbeitsplatz verlassen, sondern ich, als hätten die in dem sanften Nordlicht offenbar seit langen Monaten unberührt daliegenden Brillenfutterale, die Briefschaften und das Schreibzeug einmal meine Brillenfutterale, meine Briefschaften und mein Schreibzeug gewesen. Auch in dem Vorhaus zum Garten schien es mir, als hätte ich oder einer wie ich dort gewirtschaftet seit Jahr und Tag. Die Weidenkörbe mit dem aus kleinsten Zweigen zusammengeschnittenen Feuerreisig, die abgeschliffenen weißen und hellgrauen Steine, Muscheln und sonstigen Fundstücke vom Ufer des Wassers in ihrer lautlosen Versammlung auf der Kommode vor der blaßgrauen Wand, die in einer Ecke bei der Tür aufgestapelten Versandcouverts und Kartonagen wirkten auf mich, als wären es Stilleben, entstanden unter meiner eigenen, am liebsten das Wertlose bewahrenden Hand. Was mir wie ein schöner Traum vorkam, war aber der schlechter Traum der Wirklichkeit, es war mein Arbeitsraum, mein Haus, in dessen Fremdheit sich wiedererkennendes Vertrautsein zuerst eingeschlichen und dann die unumstößliche Wahrheit für sich reklamiert hatte. Nun sieht es ganz anders aus. Daß aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren alter Zeitungen, Kataloge, Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet, in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres treten in möglichster Aktivität auf, als wäre es im Theater erlaubt, daß im Zuschauerraum der Kaufmann seine Geschäftsbücher ordnet, der Zimmermann hämmert, der Offizier den Säbel schwenkt, der Geistliche dem Herzen zuredet, der Gelehrte dem Verstand, der Politiker dem Bürgersinn, daß die Liebenden sich nicht zurückhalten usw. Auf meinem Schreibtisch steht, in der Nachbarschaft der Brillenfutterale, der Briefschaften und dem Schreibzeug, der Rasierspiegel aufrecht, wie man ihn zum Rasieren braucht, die Kleiderbürste liegt mit ihrer Borstenfläche auf dem Tisch, das Portemonnaie liegt offen für den Fall, daß ich zahlen will, aus dem Schlüsselbund ragt ein Schlüssel fertig zur Arbeit vor und die Krawatte schlingt sich noch teilweise um den ausgezogenen Kragen. Das nächst höhere, durch die kleinen geschlossenen Seitenschubladen schon eingeengte, offene Fach des Aufsatzes ist nichts als eine Rumpelkammer, so, als würde der niedrige Balkon des Zuschauerraumes, im Grunde die sichtbarste Stelle des Theaters, für die gemeinsten Leute reserviert, für alte Lebemänner, bei denen der Schmutz allmählich von innen nach außen kommt, rohe Kerle, welche die Füße über das Balkongeländer hinunterhängen lassen. Familien mit so viel Kindern, daß man nur kurz hinschaut, ohne sie zählen zu können, richten hier den Schmutz armer Kinderstuben ein (es rinnt ja schon ins Parterre), im dunklen Hintergrund sitzen unheilbare Kranke, man sieht sie glücklicherweise nur, wenn man hineinleuchtet usw. In diesem Fach liegen alte Papiere, die ich längst weggeworfen hätte, wenn ich einen Papierkorb hätte, Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, eine leere Zündholzschachtel, ein Briefbeschwerer aus Karlsbad, ein Lineal mit einer Kante, deren Holprigkeit für eine Landstraße zu arg wäre, viele Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker und noch ein schwerer eiserner Briefbeschwerer. In dem Fach darüber - schweigen wir, elend, elend und doch gut gemeint. Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insofern Entschuldigung, als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins, sie geben mir das Recht, zu schreiben, und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benutze ich eilig. Das bin ich also.

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