Sonntag, 16. Januar 2011

Betrachtung des Todes

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Indem ich noch zögerte, kam die Nachricht, daß er mit einem Lungenemphysem in das Spital eingeliefert worden sei. Das Spital ist eine ehemalige Besserungsanstalt, in der man über lange Jahre die Obdach- und Beschäftigungslosen einem strengen, ganz auf Arbeit ausgerichteten Reglement unterworfen hatte. Er lag in einem Männersaal mit weit über zwanzig Betten, in dem viel gemurmelt, geklagt und auch gestorben wurde. Da es ihm offenbar unmöglich war, so etwas wie eine Stimme in sich zu finden, reagierte er auf meine Worte nur in größeren Abständen mit einem andeutungsweisen Sprechen, das sich anhörte wie das Geraschel vertrockneter Blätter im Wind. Was ich verstehen konnte, läßt sich in der folgenden Weise zusammenfassen. Von außen gesehn, so sagte er, ist es schrecklich, erwachsen, aber jung zu sterben oder gar sich zu töten. In gänzlicher Verwirrung, die innerhalb einer weiteren Entwicklung Sinn hätte, abzugehn, hoffnungslos oder mit der einzigen Hoffnung, daß dieses Auftreten im Leben innerhalb der großen Rechnung als nicht geschehen betrachtet werden wird. In einer solchen Lage wäre ich jetzt, abgesehen davon, daß ich nicht mehr jung bin. Sterben hieße nichts anderes, als ein Nichts dem Nichts hinzugeben, aber das wäre dem Gefühl unmöglich, denn wie könnte man sich auch nur als Nichts mit Bewußtsein dem Nichts hingeben und nicht nur einem leeren Nichts, sondern einem brausenden Nichts, dessen Nichtigkeit nur in seiner Unfaßbarkeit besteht. Ob ich alles richtig verstanden und wiedergegeben habe, kann ich nicht sagen, deutlich genug ging aber daraus hervor, daß er seinen Zustand als schandbar empfand und daß er den Vorsatz gefaßt hatte, ihm möglichst bald zu entkommen auf die eine oder die andere Weise.

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