Mittwoch, 19. Januar 2011

Bahnhofsleben

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Sobald es draußen heller zu werden begann, habe ich meine Sachen zusammengepackt, habe das Hotel verlassen und bin über die von Frühnebeln umwehte Brücke, quer durch die Gassen der Altsstadt und über den noch unbelebten Wenzelsplatz gegangen bis hinauf zu dem Hauptbahnhof, der, wie sich zeigte, in keiner Weise der Vorstellung entsprach, die ich mir von ihm gemacht hatte. Die niedrige Halle im Souterrain, in der ich nun stand, war übervölkert von Heerscharen von Reisenden, die hier vereinzelt oder in Gruppen und Familienverbänden zwischen ihren Gepäckstücken standen. Erst langsam gewannen einzelne von ihnen Deutlichkeit vor meinen Augen. Da ist der Husar in der verschnürten Pelzjacke tanzt und setzt die Füße wie ein zur Schau gestelltes Pferd. Er nimmt Abschied von einer Dame, die wegfährt. Unterhält sie leicht und ununterbrochen, wenn nicht durch Worte, so durch Tanzbewegungen und Hantieren mit dem Säbelgriff. Führt sie ein- oder zweimal, aus vorsorglicher Befürchtung, der Zug könnte schon wegfahren, die Treppe zum Waggon hinauf, die Hand fast unter ihrer Achsel. Er ist mittelgroß, starke große gesunde Zähne, der Schnitt und die Taillenbetonung der Pelzjacke gibt seiner Erscheinung etwas Weibisches. Er lächelt viel nach allen Seiten, ein förmlich unbewußtes sinnloses Lächeln, bloßer Beweis der selbstverständlichen, fast von der Offiziersehre geforderten vollständigen und immerwährenden Harmonie seines Wesens. Nun schaue ich auf das alte Ehepaar, das unter Tränen Abschied nimmt. Sinnlos wiederholte unzählige Küsse, so wie man in der Verzweiflung, ohne davon zu wissen, die Zigarette immer wieder vornimmt. Familienmäßiges Verhalten ohne Rücksicht auf die Umgebung. So geht es in allen Schlafzimmern zu. Ihre Gesichtszüge können überhaupt nicht gemerkt werden, eine alte unscheinbare Frau, sieht man ihr Gesicht genauer an, versucht man, es genauer anzusehn, löst es sich förmlich auf und nur eine schwache Erinnerung an irgendeine kleine, gleichfalls unscheinbare Häßlichkeit, etwa die rote Nase oder einige Pockennarben, bleibt zurück. Er hat einen grauen Schnauzbart, große Nase und wirklich Pockennarben. Radmantel und Stock. Beherrscht sich gut, trotzdem er sehr ergriffen ist. Greift in wehmütigem Schmerz der alten Frau ans Kinn. Was für eine Zauberei darin liegt, wenn einer alten Frau unter das Kinn gegriffen wird. Schließlich sehen sie einander weinend ins Gesicht. Sie meinen es nicht so, aber man könnte es so deuten: Sogar dieses elende kleine Glück, wie es die Verbindung von zwei alten Leuten ist, wird durch den Krieg gestört. Alle überragt ein riesiger deutscher Offizier. Er marschiert, mit verschiedenen kleinen Ausrüstungsstücken behängt, zuerst durch den Bahnhof, dann durch den Zug, den er bestiegen hat. Vor Strammheit und Größe ist er steif; daß er sich bewegt, ist fast erstaunlich; vor der Festigkeit der Taille, der Breite des Rückens, dem schlanken Bau des Ganzen reißt man die Augen auf, um alles in einem fassen zu können. Ich folgte ihm, und als ich wenig später, unmittelbar vor Abfahrt des Zuges um sieben Uhr dreizehn aus dem Gangfenster meines Waggons blickte, sah ich im Halblicht auf das aus Dreiecken, Kreisbögen, waag- und senkrechten Linien und Diagonalen sich zusammenfügende Muster der Glas- und Stahlüberdachung der Bahnsteige und sah, wie der Zug unendlich langsam aus dem Bahnhof hinausrollte, durch einen Korridor zwischen den Rückseiten mehrstöckigen Wohnhäusern in den schwarzen, die Neustadt überquerenden Tunnel hinein und dann mit gleichmäßigem Klopfen über den Fluß. Im Coupé sitzen zwei ungarische Jüdinnen, Mutter und Tochter. Beide ähnlich und doch die Mutter in anständiger Verfassung, die Tochter ein elendes, aber selbstbewußtes Überbleibsel. Mutter – großes, gut ausgearbeitetes Gesicht, wolliger Bart am Kinn. Die Tochter kleiner, spitziges Gesicht, unreine Haut, blaues Kleid, über dem kläglichen Busen weißer Bluseneinsatz. Ein Abteil weiter eine Rote-Kreuz-Schwester. Sehr sicher und entschlossen. Reist, als wäre sie eine ganze Familie, die sich selbst genügt. Wie der Vater raucht sie Zigaretten und geht im Gang auf und ab, wie ein Junge springt sie auf die Bank, um etwas aus ihrem Rucksack zu holen, wie eine Mutter schneidet sie vorsichtig das Fleisch, das Brot, die Orange, wie ein kokettes Mädchen, das sie wirklich ist, zeigt sie auf der gegenüberliegenden Bank ihre schönen kleinen Füße, die gelben Stiefel und die gelben Strümpfe an den festen Beinen. Sie hätte nichts dagegen, angesprochen zu werden, beginnt sogar selbst zu fragen, nach den Bergen, die man in der Ferne sieht, gibt mir ihren Führer, damit ich die Berge auf der Karte suche. Lustlos liege ich in meiner Ecke, ein Widerwille, sie so auszufragen, wie sie es erwartet, türmt sich in mir auf, trotzdem sie mir gut gefällt. Starkes braunes Gesicht von unbestimmtem Alter, grobe Haut, gewölbte Unterlippe, Reisekleidung, darunter der Pflegerinnenanzug, weicher Kappenhut, nach Belieben über das fest gedrehte Haar gerückt. Da sie nicht gefragt wird, beginnt sie brockenweise vor sich hinzuerzählen.

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