Mittwoch, 19. Januar 2011

Kommentar Bahnhofsleben

Auf Bahnhöfen bewegt Sebald sich so umsichtig und tiefblickend wie kaum jemand sonst. Der Prager Wilsonbahnhof ist hier aus dem mehrstufigen Erinnerungsgefüge des Austerlitzromans herausgelöst und in einheitliche Zeitebene verlegt. Menschenmassen, wie die Wartenden in einem Bahnhof, werden von Sebald so gut wie immer nach Art der Impressionisten, ohne Auflösung in Einzelpersonen wahrgenommen, erst nach übersichtlicher Verteilung der Menge in Waggons und Abteile gewinnen dann auch bei ihm einzelne Mitreisende um so unvergeßlicher Gestalt. Kafka ist als der Vater von Elf Söhnen sozusagen von Haus aus an die Menge gewohnt, er muß sich mit der Menge zurechtfinden, die Söhne unterscheiden, darf sie nicht verwechseln, und wir alle wissen, wie fein und genau, wie meisterlich er sie unterscheidet. Die Bahnsteigen mit ihren Menschenmengen sind ihm ein willkommener Übungsort für seine Wahrnehmungs- und Differenzierungskunst, die sich bei diesee Gelegenheit naturgemäß an den Augenschein halten muß. Da ist der Husar, obwohl bei Eröffnung des Wilsonbahnhofs die gute Zeit für Husaren bereits vorbei war, da ist das alte Ehepaar, anrührend und doch fragwürdig in seiner Aufführung, der deutsche Offizier, leider genau so, wie man es befürchten mußte, die Jüdin mit ihrer Tochter, einem elenden, aber selbstbewußten Überbleibsel, sie wird man nicht vergessen, die Rotkreuzschwester, eine selbstbewußte Botin der neuen Zeit. In der atmosphärischen Gestaltung des Bahnhofes und des abfahrenden Zuges steht Sebald Monet nicht nach.
Kafka TB 1915
Bahnhofsleben

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