Dienstag, 21. Dezember 2010

Kommentar Lichtnetz

Kafka und Sebald haben sich zusammengetan, um beunruhigende Lichtspiele zu veranstalten und Lichtnetze zu spannen, Räume aufzureißen, die sich dann als Gefängnisse entpuppen. Einer im Bann des andern blickten sie einander an: wie konnte Kafka ihr Treffen voraussehen? Aber dem Lauf der Zeit ist er offenbar nicht unterworfen, die Zeit zuckt und steht still unter seinem Blick, durchlaufbar in allen Richtungen, und so konnte, um nur ein Beispiel anzuführen, Stendhal den Jäger Gracchus treffen, bevor Kafka noch Gelegenheit, ihn zu ersinnen. Der dritte, scheuend die Begegnung, wich zur Seite, die Frage, wer das war, wird sich ohne Mithilfe der beiden Dichter kaum beantworten lassen. Doch wohl nicht Stendhal, obwohl, man hatte ja schon die Schwindel.Gefühle zu dritt durchlebt. Oder ist es eine Frau, Marie, an deren Bett sie gemeinsam gesessen haben. So oder so oder auch anders, wie läßt sich das Ausweichen zur Seite erklären?

Lichtnetz

Lichtnetz

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In hartem Schlag strahlte das Licht herab, zerriß das nach allen Seiten sich flüchtende Gewebe, brannte unbarmherzig durch das übrigbleibende leere großmaschige Netz. Trotzdem dieses Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, könnte man sagen, hatte es, indem es sich herniedersenkte, den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen, als vermehre es nur das Dunkel und verrinne in schwarzen Striemen, ungefähr so wie das Regenwasser auf den glatten Stämmen der Buchen oder an einer Fassade aus Gußbeton. Riesige Räume taten sich auf, Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bogen, die Stockwerke über Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer wieder hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, wie Gefangene die einen Ausweg suchten aus diesem Verlies. Unten, wie ein ertapptes Tier, zuckte die Erde und stand still. Einer im Bann des andern blickten sie einander an. Und der dritte, scheuend die Begegnung, wich zur Seite.

Kommentar Direktor

Sebalds Prosa ist thematisch weit überdurchschnittlich selektiv, das ist um so auffälliger, als seine langsam aber stetig mahlenden Sätze zuverlässig versichern, jedem beliebigen Thema gewachsen zu sein, sofern nur Zeit gegeben und ihnen danach ist. Weithin ist ihnen aber nicht danach, nicht nach diesem und nicht nach jenem, eindeutig ist ihnen etwa nicht nach dem Thema karrierebewußter, beruflich erfolgreicher Menschen zumute. Kafkas Prosa ist weitaus lückenhafter, weniger abdeckend, dafür muß man auf alles gefaßt sein, auch auf einen arbeitsamen und erfolgreichen Direktor. Üblicherweise sind die jungen Berufsanfänger und Landvermesser die eifrigen, bei den Machthabern, Beamten und Rechtspflegern besteht eher der Eindruck, daß sie nichts tun. Erfolgreich sind beide Teile meistens nicht, der Kaiser entsendet seinen Boten an die Grenze des Reiches, der rennt sogleich los in größter Eile, es wird ihm aber nicht gelingen, auch nur die Grenze der überaus weitläufigen Palastanlage zu erreichen. Und auch der Direktor, nachdem Sebald ihn gleich dem Richter Farrar in den Ruhestand gerettet hat, schaut betroffen auf sein so eigenartig verlaufenes Leben zurück.

Unser Direktor

Kommentar Drachentod

Schon Pisanellos, von Sebald in den Schwindel.Gefühlen vorgestelltes Bild stimmt bedenklich, war der sogenannte Drachen, eher ein Wurm, allenfalls eine kleinere Echse, nicht viel zu gering, um auf immer Georg Ruf als eines Helden christlicher Prägung zu begründen? Von Kafka erfahren wir nun die Wahrheit, wie sie Georg selbst eingestanden hat. Zwar war es ursprünglich ein großes Tier, aber seinem Wesen nach eher harmlos und außerdem eingeklemmt in den Türrahmen, zu keiner ernstlichen Gegenwehr imstande. Georg hat sich selbst entmythologisiert. Aber ist das nun die ganze Wahrheit? Hat nicht vielmehr irgend etwas in der finsteren Erscheinung des heiligen Antonius Georg in seinem Licht und in seiner herzbewegenden Weltlichkeit bis aufs Blut gereizt, hat er zwar nicht rundum gelogen, aber doch seine Tat wissentlich herabgespielt, hat sich nicht doch an der Schwelle seines Hauses ein grauenhafter Kampf abgespielt und ein strahlender Sieg zu unserer aller Nutzen.

Drachentod


Drachentod

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der heilige Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters Georg, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier zu Georgs Füßen, hat sein Leben ausgehaucht. Wie denn das gelungen sei, will der heilige Antonius wissen. Es machte weiter keine Mühe, räumte Georg freimütig ein, die Tür öffnete sich und es kam, gut im Saft, an den Seiten üppig gerundet, fußlos mit der ganzen Unterseite sich vorschiebend, der grüne Drache ins Zimmer herein. Formelle Begrüßung. Ich bat ihn, völlig einzutreten. Er bedauerte dies nicht tun zu können, da er zu lang sei. Die Tür mußte also offen bleiben, was recht peinlich war. Er lächelte halb verlegen, halb tückisch und begann: Durch deine Sehnsucht herangezogen, schiebe ich mich von weither heran, bin unten schon ganz wundgescheuert. Aber ich tue es gerne. Gerne komme ich, gerne biete ich mich dir an. - Was soll ich sagen, er war zu arglos, seine Tücke nur Schein, nun, im Tode hier draußen - im Haus konnte ich ihn schlecht lassen -, ist er doch sehr geschrumpft.

Montag, 20. Dezember 2010

Kommentar Stadttor

Ein unbewachtes Stadttor, das bietet Vorteile, vor allem dann, wenn man keine Ausweispapiere hat, aber ein unbewachtes Stadttor ist auch merkwürdig und verdächtig. Sebald entfaltet den von Kafka erahnten Verdacht. Wir treten ein in eine heruntergekommene Stadt, nicht in irgendeine, sondern in die Stadt der Städte, Jerusalem, nicht die Touristenstadt unserer Tage, sondern das Jerusalem, wie Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth es vorfinden. Ci vediamo a Gerusalemme, welche Geltung soll das noch haben, welche Verheißung soll noch ausgehen von dieser Stadt, on dirait que c’est la terre maudite.

Vor dem Stadttor

Kommentar Lehrstelle

Gleichzeitig mit dem Umzug aus dem uns aus der Erzählung Ritorno in Patria aber auch aus den Moments musicaux bekannten Heimatdorf in die nächstgelegene Kleinstadt sieht sich der noch junge Selysses gezwungen, eine Lehrstelle anzutreten, die Kindheit ist für ihn unwiderruflich vorbei. Detailliert und wahrhaft eindrücklich ist der morgendliche Weg zur Arbeitsstelle geschildert. Angesichts seiner notorischen Unlust, sich mit der arbeitenden Bevölkerung zu beschäftigen, überläßt Sebald die Darstellung des Bürolebens aber gern Kafka, der als Kaufmannsohn und Versicherungsbeamter über die nötigen schmerzlichen Erfahrungen verfügt. Wie immer in fragwürdiger Umgebung, sei es in Schankstuben, sei es in Büros, blüht die Liebe auf, und so hatte der Lehrjunge oft Lust, die Hand unseres Fräuleins, eine lange schwache, eingetrocknete holzfarbige Hand, wenn sie nachlässig und selbstvergessen auf dem Pult lag, zu streicheln oder gar zu küssen - dies wäre das Höchste gewesen. Das Büroleben aber geht seinen Gang und hängt in besonderem Maße an dem Geschäftsdiener, der allerdings, während rings um ihn im Geschäft die ungeheuerlichsten Fehler gemacht wurden, ohne daß man ihn eingreifen ließ, die Verzweiflung darüber hinunterwürgen und überdies an seine schwere Arbeit gefesselt bleiben mußte, obwohl er doch viel besser als der Buchhalter die Bücher hätte führen, besser als der Kommis die Kundschaft hätte bedienen können.

Die Lehrstelle

Kommentar Helden

Die Zeiten der Einkerkerung Casanovas in den Bleikammern des Dogenpalastes, von der uns in den Schwindel.Gefühlen erzählt wird, sind längst vorbei, der Kerker hat der Justizvollzugsanstalt Platz gemacht, ob dort Helden einsitzen, ist nicht bekannt, entsprechende diskriminierende Heldenverzeichnisse werden nicht mehr geführt. Die Helden sind gänzlich aus der Mode gekommen, die Zeit ist froh, keine mehr zu benötigen und in den Kirchen wird gepredigt, auch Gott brauche keine Helden. Das könnte allerdings ein Grund sein, Helden einzusperren, wenn sie sich denn doch zeigen sollten. Wer aber wäre dann befugt, sie wieder freizulassen? Nicht umsonst macht der Gehilfe ein zweifelndes Gesicht, und zwar, wie ausdrücklich vermerkt wird, nicht wegen des rostigen Schlosses, und auch der, dessen Name nicht auf der Liste ist, gerät ins Grübeln.

Entlassung der Helden

Entlassung der Helden

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Er begreift, daß er sich damit wird abfinden müssen, daß das Rechtssystem des Staates und nicht sein eigenes Rechtsempfinden jetzt der richtige Maßstab ist. Rachephantasien, die er zu Beginn seiner Haft unterhielt, verbieten sich wie von selbst. Bald ist er bereit, das ihm angetane Unrecht zu vergeben, wofern man ihn nur endlich freiläßt. Eines Tages sieht er einen der schweren Dachbalken vor seinem Karzerfenster sich drehen und dann in die alte Lage zurückkehren. Er gibt daraufhin jede Hoffnung auf die Freilassung aus der Haft auf, von der er nicht wissen kann, ob sie nicht auf Lebenszeit angesetzt ist. Wochen sind vergangen, als er eines Morgens Schritte hört draußen auf dem Gang. Der Gefängniswärter will das eiserne Tor aufsperren, aber das Schloß ist rostig, die Kräfte des alten Mannes genügen nicht, der Gehilfe muß heran, er macht aber ein zweifelndes Gesicht, nicht wegen des rostigen Schlosses. Die Helden wurden aus dem Gefängnis entlassen, sie ordneten sich ungeschickt in einer Reihe, durch die Haft hatten sie an Beweglichkeit sehr verloren. Der Gefangenenaufseher, nahm aus seiner Aktenmappe das Heldenverzeichnis, es war das einzige Schriftstück in seiner Mappe, wie er ohne jede Bosheit – es war doch keine Schreiberanstellung – bemerkte und machte sich daran, die Helden einzeln aufzurufen und die Namen im Verzeichnis dann abzustreichen. Unser Gefangener stand seitlich in seiner Zelle auf dem Tisch und überblickte die Reihe der Helden. Sein Name wurde nicht aufgerufen, er war nicht im Verzeichnis.

Kommentar Beichte

Alles spricht dafür, daß es Selysses ist, der dort durch seinen schneeverwöhnten Heimatort eilt. Man kannte ihn bislang allerdings kaum als Kirchgänger und Beichtwilligen. Dazu kommt es dann auch gar nicht. In der Kirche dann, als er beichten sollte, wußte er nichts zu sagen. Alle Sorgen waren vergangen. Aber nicht nur das Innenleben, auch die Außenwelt ist wie ausgetauscht. Man wähnt sich jetzt eher im Sommer und im Süden. Fröhlich, ruhig, ohne jedes Zittern der leuchtenden Sonnenflecken, lag, durch die halboffene Kirchentür gesehen, der Platz. Nun, die Schwindel.Gefühle sind das Buch multipler Alpenüberquerungen, und da wir schonend umgeben sind vom schützenden Mantel einer Dichtung, muß man das Gebirge nicht unbedingt leibhaftig mitten im Winter unter den größten Mühen und Entbehrungen überqueren.

Die Beichte

Sonntag, 19. Dezember 2010

Kerker der Erinnerung

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich habe seit jeher einen gewissen Verdacht gegen mich gehabt. Aber es geschah nur hie und da, zeitweilig, lange Pausen waren dazwischen, hinreichend um zu vergessen. Es waren außerdem Geringfügigkeiten, die gewiß auch bei andern vorkommen und dort nichts Ernstliches bedeuten, etwa das Staunen über das eigene Gesicht im Spiegel, oder über das Spiegelbild des Hinterkopfes oder auch der ganzen Gestalt, wenn man plötzlich auf der Gasse an einem Spiegel vorüberkommt. Und nun zögerte ich, an die Schwingtür heranzutreten, aber kaum hatte ich die Hand auf den Messingknopf gelegt, so trat ich schon, durch einen im Inneren gegen die Zugluft aufgehängten Filzvorhang, in den offenbar vor Jahren bereits außer Gebrauch geratenen Saal. Eisgraues, mondscheinartiges Licht drang durch einen unter der Deckenwölbung verlaufenden Gaden und hing einem Netz oder einem schütteren, stellenweise ausgefransten Gewebe gleich über mir. Trotzdem dieses Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, könnte man sagen, hatte es, indem es sich herniedersenkte, den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen, als vermehre es nur das Dunkel und verrinne in schwarzen Striemen, ungefähr so wie das Regenwasser auf den glatten Stämmen der Buchen oder an einer Fassade aus Gußbeton. Kaum einen Lidschlag lang sah ich riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bogen, die Stockwerke über Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer wieder hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, die einen Ausweg suchten aus diesem Verlies, und je länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrscheinlichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derartig falschen Universum möglich war, in sich selbst zurück. Einmal glaubte ich, seht weit droben, eine durchbrochene Kuppel zu sehen, an deren Rändern auf einer Brüstung Farne wuchsen und junge Baumweiden und anderes Gehölz, in das Reiher große, unordentliche Nester gebaut hatten, und ich sah sie, in einer Gefängnis- und Befreiungsvision, ihre Schwingen ausbreiten und davon fliegen durch die blaue Luft.

Kommentar Kerker

Die Farben seien zu wertvoll, um sie an die Darstellung von Gegenständen zu verschwenden, haben neuzeitliche Maler herausgefunden, und auch wenn man von der Vernunft und Stichhaltigkeit dieser Feststellung nicht allzu tief überzeugt ist, möchte man für einen Augenblick in gleichgerichteter Weise fortfahren mit der Behauptung, die Schilderung des Eintritts in den Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station im Roman Austerlitz sei zu schade, um lediglich eine Romanhandlung voranzutreiben, sie gehöre zum besseren Sichtbarmachung ihres ungeheuerlichen Leuchtens aus dem Zusammenhang genommen, so wie Piranesis Carceri d’Invenzione aus jedem vernünftigen Zusammenhang genommen sind. Und wenn der Name des italienischen Graveurs nun schon einmal gefallen ist, kann man sich fragen, ob die Worte Verlies und Gefängnis zufällig fallen, ob nicht die Liverpool Street Station jede Ähnlichkeit mit sich selbst eingebüßt hat und nicht vielmehr einer der beklemmenden Kerkervisionen des italienischen Meisters ähnelt? Ein Fest der Linien ist umgesetzt in ein Fest der Worte. Kafkas einleitende Ausführungen zum Verdacht gegen sich selbst gehen unbemerkt durch als Überlegungen des Jacques Austerlitz und verhelfen ihm dazu, sich aus seinen schnöden Romanverpflichtungen heraus- und in die phantastischen Ausgeburten seines Inneren hineinzubegeben.

Kerker der Erinnerung

Kommentar Jung

Die Schilderung fröhlicher junger Menschen, zumal wenn sie in Gruppen auftreten, ist wahrlich kein Schwerpunkt in Sebalds Prosawerk. Für Stendhal, der uns in der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe begegnet, müssen derartige Augenblicke des Frohsinns und gemeinschaftlichen Übermuts während seiner insgesamt nur kurzen Militärlaufbahn aber eine Begleiterscheinung des Regimentslebens gewesen sein, er muß daher herhalten, wie mehrfach schon. Bei Kafka sind wir darauf gefaßt, daß so gut wie alles aus dem Nichts auftauchen und Gestalt annehmen kann. Unbeschwert lehnen die jungen Offiziere in den offenen, den Blick und sie selbst ins Weite tragenden Fenstern.

Sie waren jung

Kommentar Marie schläft

In Sebalds Gesamtwerk treffen wir wohl nur einmal auf einen Mann, der am Bett einer schlafenden Frau sitzt. Jacques Austerlitz ist erwacht mit einem abgründigen Gefühl der Zerstörung, und hat sich, ohne Marie auch nur ansehen zu können, wie ein Seekranker aufrichten und an den Bettrand setzen müssen. Näheres über seine innere Zerrissenheit erfahren wir von Kafka. Soll er Marie wecken oder nicht? Daß er nicht aufsetzen kann den Fuß auf die brennende Türschwelle ihres Hauses, daß er nicht den Weg kennt zu ihrem Hause, daß er nicht die Richtung kenne, in welcher der Weg liegt – das ist naturgemäß nicht räumlich-realistisch, sondern seelisch-metaphorisch zu verstehen. Zu einer Entscheidung kommt es nicht. Er tritt ans Fenster und schaut gegen die Anhöhe hinauf die großen Hotelpaläste. Irgendwann dachte er, hat er einen Fehler gemacht und ist jetzt in einer falschen Welt. Die richtige gibt es nicht.

Marie schläft

Kommentar Winterbuch

Von Sebald ist das gesamte äußere Ambiente, die klirrende Kälte und der flirrende Schnee, die Unzahl der glitzernden Sterne am Himmel, alles so, wie man es bei einer Rückkehr in das heimatliche Allgäu erleben kann, von Selysses ist auch das in Eiseskälte lodernde Herz zum Abschluß, dem Namenspatron Sand Sebolt abgeschaut bei einer Wallfahrt durch England. Von Kafka ist der Student mit dem volkswirtschaftlichen Buch, dessen Kennzeichnung als väterliches Erbstück aber wiederum von Sebald. Was ist dem klaren Denken förderlicher als die frostklare Nacht, wann ist der wärmende Gedanke willkommener, wann andererseits tritt das Ungenügen unseres Denkens deprimierender zu Tage, wann wünschen wir uns sehnlicher, daß alles zuschneien möge, die ganze Stadt und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf.

Winterbuch

Samstag, 18. Dezember 2010

Kommentar Okkulte Zeichnerin

Wohl niemand war darauf gefaßt, daß Marie de Verneuil und Austerlitz bei ihren Streifzügen durch Paris auch das Bedürfnis hatten, einen okkulten Zeichner oder eine okkulte Zeichnerin zu sehen. Sie selbst sind sich ihrer Sache in diesem Punkt auch keineswegs sicher, und niemand weiß auch so recht, was unter einem okkulten Zeichner zu verstehen ist, einen Lexikoneintrag gibt es dazu nicht. Aber insgeheim waren sie nun einmal aus dem für Kafka typischen Nichts heraus schon seit längerem insgeheim und unauffällig neugierig gewesen, eine jener Damen vor uns zu sehen, die aus innern, aber fremden Kräften dieses und anderes zeichnen, wie sie es eben müssen.

Okkulte Zeichnerin

Sie waren jung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es sind ja junge Leute, und dann sterben sie womöglich

Er war damals siebzehn Jahre alt, sah das Ende seiner ihm auf das tiefste verhaßten Kindheit und Jugend gekommen und stand mit einiger Begeisterung im Begriff, seine Laufbahn im Dienste des Heeres anzutreten. Knapp drei Monate später war er dem 6. Dragonerregiment als Souslieutenant zugeteilt. Nun trug er hirschlederne Hosen, einen vom Nacken bis zum Scheitel mit gestutztem Roßhaar besetzten Helm und Stiefel mit Sporen. Wenn er jetzt seine Gestalt im Spiegel betrachtete oder gar in den Augen der Frauen den Reflex seines Eindrucks wahrzunehmen glaubte, fühlte er sich wie verwandelt. Sie lachten viel im Regiment. Mochte die Jugend in seinen Augen auch vorüber sein, so waren sie doch jung, die Tage waren schön, die hohen Fenster des Korridors führten auf einen unübersehbaren blühenden Garten. Sie lehnten in den offenen, den Blick und sie selbst ins Weite tragenden Fenstern. Manchmal sagte der hinter ihnen auf und ab gehende Regimentsfeldwebel ein Wort, das sie zur Ruhe mahnen sollte. Sie sahen ihn kaum, sie verstanden ihn kaum, nur an seinen auf den steinernen Fliesen tönenden Schritt erinnere er sich, an den von ferne warnenden Klang.

Kommentar Aufgabe

Der Liebeshandel zwischen dem Schüler Selysses und seiner Lehrerin, auch wenn er aller Wahrscheinlichkeit nach, einseitig verlaufen mußte, ist vielleicht der schönste überhaupt, von dem Sebald erzählt. Kafka mischt sich ein mit einer Hausaufgabe exorbitanter Schwierigkeit, die ihm nicht anders als von dunklen Mächten gestellt erscheint, und die bereitwillig sich anbietende Hilfe beruht, nach allem was er annehmen kann, auf nichts anderem als auf Lug und Trug. Selysses aber, ganz aufgegangen in der weiblichen Sphäre, wischt das beiseite, es ist nichts anderes als eine Bagatelle verglichen mit der selbstverordneten, bei weitem schwierigeren und größeren Aufgabe, das Fräulein Dymowa auf immer einzuspinnen und zu verstricken in ein Netzwerk von Zeilen und Zahlen. Ob er die Hausaufgabe am nächsten Tag vorweisen konnte, erfahren wir nicht. Während aber in Sebalds Erzählung das Scheitern der Absichten hinsichtlich des Lehrerfräuleins unzweifelhaft sich aus dem Zusammenhang ergibt, hindert uns in diesem Rahmen nichts, auch ein günstigeres Ende vorsichtig in Erwägung zu ziehen.

Eine sehr schwere Aufgabe

Kommentar Auf dem See

Die drei Protagonisten der Schwindel.Gefühle, Stendhal und Kafka und Selysses, suchen und finden, jeder auf seine Art, die Ruhe und den Frieden einer Bootsfahrt auf dem See, dem Gardasee, so wie im übrigen zuvor bereits auch Rousseau mit ähnlicher Sehnsucht an den Nachmittagen ein Stück weit auf den Bieler See hinausgerudert war. Sogar für den besonders empfindsame Kafka noch war, wie er an anderer Stelle erzählt, die Stille vollkommen, aber fortwährend drohte, nur ihm wahrnehmbar, eine Störung. Doch blieb es still und er ruderte weiter. Er nimmt sich vor, ein anderes Mal die aus Genua stammende Schweizerin mit der, nach Sebalds Angaben, merkwürdig dunkel gefärbten Stimme mit hinauszunehmen auf den See. Sie werden einander ihre Krankengeschichten erzählen und getragen sein von einer zeitweiligen guten Besserung und einem Gefühl friedlicher Betäubung. - Die Idee mit dem Album ist von Robert Walser, Kleist in Thun.

Auf dem See

Kommentar Bootsmann

Wir wissen es von Walter Benjamin: Die Figuren Kafkas sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbild der Entstellung, dem Bucklichten. Hier ist es der verwachsene Bootsmann, der sich verdeutlichende Züge des verwachsenen Portiers ausleiht, den Selysses auf seiner Amerikareise in der Erzählung Ambros Adelwarth trifft, nicht imstande von seinem Gegenüber mehr als die Beine oder den Unterleib wahrzunehmen. Sonst aber ist er riesenhaft und stark, und auch seine allgemeine Bewegungsfähigkeit leidet kaum, denn auch er schwebt, wie der Reisende, gewissermaßen hinan zum Oberdeck. Reisen heißt Abschied nehmen, und kein Verkehrsmittel eignet sich dafür besser als das Schiff, wenn es so langsam sich entfernt, wie es Selysses vor Korsika beobachtet, fast schon zu langsam für das begrenzte menschliche Abschiedsvermögen.

Der Bootsmann

Freitag, 17. Dezember 2010

Kommentar Arztbesuch

Körperlich geht es dem Kranken ein wenig besser, auch wenn er sich vor Schwäche nicht rühren kann. Was ihn quält ist sein Denken, und er braucht alle seine Kraft damit, es zu ersticken. Da ist es wohl nur gut, daß nicht der feinsinnige Dr. Rambousek, sondern der mehr als handfeste, mit seiner siebenhundertfünfziger Zündapp geradezu verwachsene Dr. Piazolo beide kennen wir aus Selysses Heimatort W. – von der Vermieterin konsultiert wurde, und gut ist es auch, daß nicht Piazolos Doppelgänger oder Schattenreiter erschienen ist, der gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit mit dem Motorrad machte, und daß auch Arztbesteck und Versehgerät nicht wieder einmal verwechselt wurden.

Arztbesuch

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Eine sehr schwere Aufgabe

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Gut zwei Wochen, bis kurz nach Weihnachten, hatte die Krankheit gedauert, und bis zum Dreikönigstag konnte ich kaum etwas anderes zu mir nehmen als löffelweise etwas Brot und Milch. Der Schulbesuch blieb vorerst weiter ausgeschlossen. Im Frühjahr wurde ich dem Fräulein Dymowa, die inzwischen wieder von dem grauenhaften Hauptlehrer Krol, den sie vertreten hatte, im Amt abgelöst worden war, zwei Stunden täglich in die Obhut gegeben. Das Fräulein Dymowa war die Tochter des Forstverwalters, und ich ging also jeden Tag gegen zehn Uhr ins Forstverwalterhaus hinüber und saß bei schlechtem Wetter neben der sanftmütigen Lehramtskandidatin auf der Offenbank, bei schönen Wetter draußen in dem drehbaren Gartenhaus inmitten des Arboretums. Heute hatte sie mir für den nächsten Tag eine Hausaufgabe mitgegeben. Es war eine sehr schwere Aufgabe und ich fürchtete, sie nicht zustande zu bringen. Auch war schon spät abends, viel zu spät hatte ich sie vorgenommen, den langen Nachmittag auf Rückweg vom Forsthaus in den Gassen verspielt, dem Vater, der mit vielleicht hätte helfen können, das Versäumnis verschwiegen und nun schliefen alle und ich saß allein vor meinem Heft. Wer wird mir jetzt helfen? sagte ich leise. Ich, sagte ein fremder Mann und ließ sich rechts von mir an der Schmalseite des Tisches langsam auf einem Sessel nieder, so wie bei meinem Vater, dem Advokaten, die Parteien sich an der Seite seines Schreibtisches niederducken, stützte den Ellbogen auf den Tisch und streckte die Beine weit ins Zimmer. Ich hatte auffahren wollen, aber es war ja der Lehrer Krol; er freilich würde die Aufgabe, auch wenn er sie in diesem Fall nicht selbst gegeben hatte, am besten zu lösen verstehen. Und er nickte in Bestätigung dieser Meinung freundlich oder hochmütig oder ironisch, ich konnte es nicht enträtseln. Aber war es wirklich mein Lehrer? Er war es äußerlich und im Ganzen vollkommen, ging man aber näher auf Einzelheiten ein, wurde es fraglich. An der Lösung der Aufgabe als solcher war mir aber ohnehin nicht gelegen, war sie doch nur ein zu vernachlässigender in einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welches ich das Fräulein Dymowa auf immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als ei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Montag, 13. Dezember 2010

Okkulte Zeichnerin

In den nachfolgenden Wochen und Monaten sind wir oft zusammen im Luxemburggarten, in den Tuilerien und im Jardin des Plantes spazierengegangen, die Esplanade zwischen den gestutzten Platanen hinauf und herunter, die Westfront des Naturhistorischen Museums einmal zur Rechten und einmal zur Linken, in das Palmenhaus hinein und wieder aus dem Palmenhaus hinaus, über die verschlungenen Wege des Alpengartens oder auch durch das trostlose Zoogelände. Wir wußten nicht eigentlich, ob wir das Bedürfnis hatten, einen okkulten Zeichner zu sehn. Und wie es geschieht, daß ein leicht und unbemerkt seit jeher vorhandenes Bedürfnis unter einer stärker werdenden Aufmerksamkeit fast entlaufen möchte und nur durch eine bald auftretende Wirklichkeit sich auf den ihm gebührenden Platz festgehalten fühlt, so waren wir schon eine lange Zeit unauffällig neugierig gewesen, eine jener Damen vor uns zu sehen, die aus innern, aber fremden Kräften einem eine Blume hoch vom Mond, dann Tiefseepflanzen, dann durch Verzerrung verzogene Köpfe mit großen Frisuren und Helmen zeichnen und anderes, wie sie es eben müssen.

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Fort von hier

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen trugen gerade eine Bahre an Land, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme G. fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug aus Riva abzureisen. Fort von hier, nur fort von hier, rief auch er sogleich mit unangemessener Begeisterung. Du mußt mir nicht sagen, wohin du mich führst. Du führst mich in das Palace Hotel weit oben im Norden. Der Empfangschef erledigt mit der größten Langsamkeit, beinahe so als bewegte er sich in einer dichteren Atmosphäre, ohne ein weiteres Wort die notwendigen Formalitäten, verlangt unsere Visa zu sehen, blättert in den Pässen und in seinem Register herum, macht mit einer kraxligen Schrift einen längeren Eintrag in ein kariertes Schulheft, läßt uns einen Fragebogen ausfüllen, kramt in seiner Schublade nach dem Schlüssel und bringt schließlich durch das Läuten einer Klingel einen krummen Dienstmann herbei, der einen mausgrauen, ihm bis zu den Knien reichenden Nylonkittel trägt und, nicht anders als der Empfangschef des Hauses, geschlagen ist von einer seine Glieder lähmenden krankhaften Müdigkeit. Und nun, wo ist deine Hand, ach ich kann sie im Dunkel nicht ertasten. Du stehst sicher zu meiner Linken, unglücklich über den zu deiner Rechten, also über mich, unglücklich, für mich Gestalt anzunehmen. Hielte ich doch nur schon deine Hand, ich glaube, du würdest mich dann nicht verwerfen. Hörst du mich? Bist du überhaupt im Zimmer? Vielleicht bist du gar nicht hier. Was sollte dich auch hergelockt haben in das Eis und den Nebel des Nordens, wo man Menschen gar nicht vermuten sollte. Du bist nicht hier. Du bist ausgewichen diesen Orten. Ich aber stehe und falle mit der Entscheidung darüber, ob du hier bist oder nicht.

Der Haß eines Hundes

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Für sich allein in der Gaststube, unbeachtet von den Bauern und Holzknechten, saß der Jäger, ein stattlicher Mann mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden, überschatteten Augen. Er saß stundenlang, oft bis tief in die Nacht hinein bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Zu seine Füßen schlief der Karo, festgebunden an den an der Stuhllehne hängenden Rucksack, naturgemäß noch weniger beachtet als sein Herr. Nun aber sind die geheimen Gedanken des Hundes offenbar geworden. Ich bin ein Jagdhund, denkt er jeden Abend wieder, Karo ist mein Name. Ich hasse alle und alles. Ich hasse meinen Herrn, den Jäger, hasse ihn, trotzdem er, die zweifelhafte Person, dessen gar nicht wert ist. Deseo que se convierte en un absurdo viviente, en un cazador sin brazos y sin piernas, en una liebre que corre tras de un tigre que duerme.

Kommentar Fort von hier

Hier sind die Gedanken, Ängste und Wünsche der beiden Dichter besonders eng verwoben. Die Barke des Gracchus hat schon abgedreht, er selbst wird an Land getragen, wo Sebald, offenbar in Schwindelgefühlen, Stendhal, unterwegs in Begleitung einer imaginären Gefährtin, seiner ansichtig werden läßt. Fort von hier, nur fort von hier, greift Stendhal den Abreisewunsch der Gefährtin mit den leidenschaftlichen Worten Kafkas auf, und schon scheinen sie in einem Hotel, das dem in Marienbad, so wie in Austerlitz beschrieben, täuschend ähnlich ist, aber doch noch um einiges nördlicher liegen muß. Sebald unterschiebt Stendhal Ängste, die er zunächst, wieder ergriffen von Schwindelgefühlen, Kafka zugedacht hatte, Ängste, die Gefährtin sei unglücklich über ihn. Aber das wäre noch das geringste, fast sieht es aus, als sei sie gar nicht da, gut denkbar angesichts ihrer ohnehin körperlosen Natur. Bist du nicht hier? Ich stehe und falle mit der Entscheidung darüber, ob du hier bist oder nicht.

Fort von hier

Kommentar Kopf, Hand

Dem heilige Dionysius ist es provisorisch gelungen, den Verlust seines Kopfes zu überleben, und nun versucht er häuslich zu werden in der neuen Existenzform, Cortázar notiert leidenschaftlos die Zwangslage. Seinen Verstand hat er in die Hand vergraben und dort sicher untergebracht. Zur Weise des Heiligen gesellt sich die des Prestidigitateurs, des Zauberkünstlers, eine Berufsgruppe die insbesondere Kafka, aber auch Sebald nahegestanden hat. Es ist auch keineswegs ein Wechsel in eine ganz andere Sparte, sowohl die Heiligen als auch die Zauberer gewähren Zugang zum Unglaublichen und in Frühformen der Religion war es wohl ein und dasselbe. Die Verbindung bleibt hier allerdings ein wenig unglücklich. Zwar hat Dionysius den Kopf an der überkommenen Stelle eingebüßt, muß ihn jetzt aber, wie wir unter anderem aus Grünewalds Lindenhardter Flügelaltar wissen und in Sebalds Nach der Natur nachlesen können, fortan in der Hand halten, die Finger sind also nicht frei. Aber vielleicht trägt das noch zusätzlich bei zur Sicherheit des in den Händen verborgenen Verstandes. Wollte man ihm etwa nach dem Kopf auch noch eine Hand abschlagen, könnte er den Verstand flink noch in der anderen bergen, die dann allerdings obendrein den Kopf noch tragen müßte. Oder kann er auf den irgendwann ganz verzichten, ist er vielleicht schon jetzt bloßer Ballast?

Im Farnwald

Aus dem Schattenreich
Kommentar


Ein paar Dutzend toter Bäume, die vor Jahren schon von den Klippen herabgestürzt sein müssen, liegen wild durcheinander. Ausgebleicht vom Salzwasser, vom Wind und von der Sonne, sieht das zerbrochene rindenlose Holz aus wie die Gebeine irgendeiner vor langer Zeit an diesem einsamen Ufer zugrundegegangenen, selbst die Mammuts und Saurier überragenden Art. Der Fußpfad führt nun um den Verhack herum, durch eine Ginsterböschung auf die Anhöhe der Lehmklippe hinauf und dort in geringer Entfernung von dem stets von Einbrüchen bedrohtem Rand des festen Landes zwischen Adlerfarnen hindurch, die mir weit über die Schultern reichten. Ich war völlig verirrt in dem Farnwald. Unverständlich verirrt, denn noch vor kurzem war ich zwar nicht auf einem Weg, aber in der Nähe des Wegs gegangen, der mir auch immer sichtbar gewesen war. Nun aber war ich verirrt, der Weg war verschwunden, alle Versuche, ihn wiederzufinden, waren mißlungen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und wollte meine Lage überdenken, aber ich war zerstreut, dachte immer an anderes als an das Wichtigste, träumte an den Sorgen vorbei. Dann fielen mir die reichbehängten Heidelbeerpflanzen rings um mich auf, ich pflückte von ihnen und aß. Nach wenigen zögernden Schritten trat das Farnkraut unversehens auseinander und gab den Blick frei auf ein zur Kirche des nächsten Dorfes hin erstreckendes Feld. Aber was hilft es, reicht doch - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Gang bei weitem nicht hinreicht.

Kommentar Farnwald

Seit Dante kann man sich in einem Wald nur in mittleren Jahren verirren, und so wird es auch hier sein. Sebald, in der Außenwahrnehmung, etwa dann, wenn er durch England wallfahrtet, immer um einiges reichhaltiger als Kafka, sorgt für einen Farnwald, der weit in vorgeschichtliche Zeiten zurückführt. Er ist es aber auch, der dem Spuk schon bald ein Ende machen will, indem er den Kirchturm des nächsten Dorfes entdeckt. Aber da ist Kafka festgelegt, noch nie hat er begreifen können, wie ein junger Mensch geschweige denn einer in mittlerem Alter sich entschließen kann, aufzubrechen ins nächste Dorf, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens dafür bei weitem nicht hinreicht. Das einzig vernünftige scheint, zu bleiben und auf die lebenserhaltenden wenn auch eintönigen Heidelbeerpflanzen zu setzen.

Im Farnwald

Kommentar Eiche

Ähnlich wie Selysses in den Schwindel.Gefühlen entschließt sich jemand, nach England zurückzureisen, zuvor aber, erstmals nach sehr langer Zeit wieder, seine Heimatstadt zu besuchen. Dabei handelt es sich aber offenkundig nicht um den beschaulichen Ort W., sondern um eine städtische Agglomeration, die gewisse Ähnlichkeiten mit Manchester hat, wie wir es aus der Erzählung Max Aurach kennen. Manchester aber kann es nicht sein, denn die Rückkehr nach England steht ja noch aus, wahrscheinlich handelt es sich um eine Stadt in Böhmen. Deprimiert vom Zustand der Stadt entflieht der Reisende in das umgebende freie Land. Die große Eiche auf der Anhöhe erinnert ihn an die des Vercingetorix auf Courbets Bild erinnert, dessen Kopie Selysses im Atelier des Malers Aurach gesehen hatte. In der harten Eichenrinde und liest zwei eingeritzte, längst vernarbte Namen, einer war Josef. Der war häßlich gewesen, selbst den Kindern damals, die doch mehr Kraft und Geschicklichkeit – und beides hatte er – als Schönheit zu beurteilen verstanden, erschien er sehr häßlich. Das führt in die Tiefen der Vergangenheit und der Seele.

Eiche der Erinnerung

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Kommentar Meister

Ist dieser Rat Kafkas an Lehrlinge oder an Meister gerichtet? Wohl eher ein Rat für Lehrlinge, die erste Stufe der Weisheit im Umgang mit Hindernissen, möchte man nach kurzer Überlegung meinen. Meisterlich ist es wohl erst, auch dann, wenn allem Augenschein ein tatsächliches Hindernis auftritt, wie etwa beim Versuch, ein altes Wandschränkchen zu öffnen, das kein Schloß aufweist, in Ruhe abzuwarten, nicht nur mithin die Zeit nicht zu mißbrauchen für die Suche nach einem Hindernis, sondern ihr auch Gelegenheit zu geben, ein vorgebliches Hindernis aus dem Wege zu räumen, seine Scheinhaftigkeit zu erweisen. Abwarten und sich zunächst einmal das Abendbrot bereiten, ergänzt Selysses, selbst nicht unbedingt ein Gourmet, aber Weichkäse mit Schnittlauch, ein Rettich, ein paar Tomaten mit Zwiebeln und ein geräucherten Hering, so wie man es vor langen Jahren beobachtet hat beim Schneider Moravec gegenüber der Sporkova, wo Austerlitz als Kind wohnte, das kann man in jedem Fall empfehlen in einer solchen Situation.

Kommentar Schwelle

Die vier langen Erzählungen in den Ausgewanderten handeln von zweien, die sich das Leben genommen haben, von einem, der nahe daran ist, es zu tun, und von einem vierten, der den Suizid als Therapie tarnt. Nur von Paul Bereyter, dem alten Lehrer, aber erfahren wir, daß er sich durch eine ausufernde Lektüre akribisch auf die Tat vorbereitet hat. Kafka hebt das Thema auf die luftige Ebene einer Wohnung im dritten Stockwerk, die nicht nur allen deutschen Baunormen spottet, sondern mit einiger Sicherheit so auch in Frankreich nicht zulässig wäre. Denn beschrieben ist ja wohl ein sogenanntes Französisches Fenster, wie es sich ausschließlich für das Erdgeschoß eignet, hier aber dem Kandidaten erlaubt, die Sohle draußen über die Schwelle zu streichen, so wie man flüchtig mit der Zunge an etwas Süßem leckt, das man sich für spätere Zeiten zurückgelegt hat

Kommentar Haß

Sie sitzen zu W. beim Engelwirt. Das Verhältnis zwischen dem Jäger Hans Schlag und seinem Hund ist undurchsichtig, von Seiten des Jägers eher distanziert. Nun erfahren wir zu unserer nicht geringen Überraschung, von der Seite des Hundes aus ist alles noch um einiges dunkler und schlimmer, der Hund haßt seinen Herrn. Damit hat er, wie die Tiere bei Kafka fast immer, seinen kreatürlichen Stand so gut wie verlassen, denn was einem Hund auf keinen Fall gelingen kann - eher noch lernt er lesen und schreiben - ist, Haß zu empfinden für seinen Herrn, und das ganz ungeachtet der Tatsache, daß auch er, der Hund, im Herzen ein Jäger und Raubtier ist. Cortázar schließlich verrät uns das innere Bild des hündischen Hasses, die im Haß enthaltene Sehnsucht.

An der Schwelle

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Er hat gelesen und gelesen, und zwar in erster Linie Schriftsteller, die sich das Leben genommen hatten oder nahe daran waren, es zu tun. Hunderte von Seiten hat er exzerpiert, großenteils in der Gabelsberger Kurzschrift, weil es sonst nicht geschwind genug gegangen wäre, und immer wieder stößt man auf Selbstmordgeschichten. Er stand auf und trat zum Balkon, aber es war kein Balkon, nur statt des Fensters eine Tür, die hier im dritten Stockwerk unmittelbar ins Freie führte. Sie war jetzt offen an dem Frühlingsabend. Er ging in seinen Exzerpten lesend im Zimmer auf und ab; kam er zur Fenstertür, strich er immer mit der Sohle draußen über ihre Schwelle, so wie man flüchtig mit der Zunge an etwas Süßem leckt, das man sich für spätere Zeiten zurückgelegt hat.

Kommentar November

Selysses erwacht im Hotel, in einer fremden Stadt, der Verkehrslärm klingt wie die Meeresbrandung und ruft Schwindelgefühle hervor, er hat Mühe, die Wirklichkeit zu erreichen. Kafka liefert den entscheidenden Orientierungspunkt: es ist November. Es sind Besonderheiten, die uns als Wahrzeichen die Bewegung in der Welt ermöglichen, und ihm scheint, daß zwar jeder Monat eine besondere Bedeutung hat, der November aber noch einen besondern Zusatz von Besonderheit. Die Besonderheiten sind aber immer in Gefahr, von der Anpassungskraft der Menschen überwältigt zu werden. Eben noch hatte er sich im Halbwachen die Gangway eines großen Fährschiffs herunterkommen sehen, und nun, da er gleichsam festen Boden unter den Füßen hatte, faßt er den Entschluß, mit dem Abendzug über die Alpen nach Venedig zu fahren.

Kommentar Rätselhafter Sarg

Die Überlegungen zum nahezu leibhaftigen Weiterleben der Toten hatte Selysses zunächst auf Korsika entwickelt, sie passen zum keltischen Land Wales sicher nicht weniger gut. Evan, der den kleinen Dafydd Elias alias Austerlitz in das muntere Treiben im Totenreich einführt, war eigentlich Schuster, mußte seinen Beruf wechseln, um als Sargtischler eine wahre, ursprünglich von Kafka niedergeschriebene Geschichte aus dem Totenreich als selbsterlebt erzählen zu können. Mit einem Sarg, der gerade erst die Tischlerei verläßt und ein harmloses Möbelstück wie jedes andere sein sollte, geschehen seltsame Dinge, die Mensch und Tier, Spatz und Hund, gleichermaßen entsetzen. Ein Klopfen zunächst aus dem Inneren des Sargs, der noch leer sein sollte, und dann wird tatsächlich der Deckel aufgestoßen. An dieser Stelle der Erzählung ist Evan offenbar, dem Geheimnis angemessen, in einen Flüsterton verfallen, denn das weitere und wer der Insasse wohl gewesen ist, erfahren wir nicht.

Dienstag, 7. Dezember 2010

Kommentar Alter Lehrer

Seinen alten Volksschullehrer hat Selysses geliebt, ein echter Melammed, wie es an anderer Stelle heißt, der seine Begeisterung für die Wissensgebiete, sei es die Naturlehre, seien es die Sprachen, auf die Schüler zu übertragen wußte. So wie Sebald es erzählt, ist Selysses sein alter Lehrer erst wieder in den Sinn gekommen, als ihn die Nachricht von seinem Tod erreicht. Von Kafka aber erfahren wir nun, daß er ihn, wenig vorher nur, wie es scheint, noch einmal besucht hat. Das Verhältnis von Schüler und Lehrer ist nicht symmetrisch, der Lehrer betreut während seines Berufslebens eine nahezu unüberblickbare Zahl von Schülern, während die Schüler sich aus ihrer Volksschulzeit nur an sehr wenige Lehrer zu erinnern haben. Gemessen an den Erwartungen ist der Empfang eher kühl. Ja, du bist mein Schüler. Aber warum kommst du wieder zurück? Fast schon ein Vorwurf, könnte man meinen. Dann aber schließt sich auch schon die Tür vor unseren Augen und Nasen, mehr erfahren wir nicht. Vielleicht ist es noch zu einem langen Gespräch über vieles gekommen, und es muß nicht ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler geblieben sein, der Vorwurf mithin verflogen.

Der alte Lehrer

Kommentar Bei den Toten

Bei seinen Wanderungen und Erkundungen auf Korsika ist Selysses mehr als vom allen anderen von den alten Totenkulten und ihrem Zusammenspiel mit den Regeln der Blutrache sowie ganz besonders von dem Weiterleben der Toten beeindruckt. Überall ziehen sie herum, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. In der drauffolgenden Nacht verhilft Kafka dem Wanderer zu einem Traumaufenthalt bei den Toten, Wohl nicht von ungefähr trifft er auf einen Mann mit mächtigem Körper, der bis dahin geschrieben und gerade jetzt aufgehört hatte zu schreiben. Eine Bedienerin kehrte aus, doch war nichts auszukehren, mit diesem Satz entfernt sich Kafkas Beitrag unnachahmlich und erklärungslos in das Nichts, aus dem er gekommen war. Selysses aber spürt auch am Tag danach, im Wachzustand in der Herzgegend noch eine dumpfe, allmählich die Sinne abtötende Bedrängnis.

Bei den Toten

Kommentar Menschenleer

Die Erstveröffentlichung von Nach der Natur war bebildert mit Photographien einer in den Glückszustand der Menschenlosigkeit versetzten Erde, das Prosawerk gewährt wiederholt vom Flugzeug aus auf mit den baulichen Artefakten des Menschen bedeckte Landschaften, in der der Mensch selbst nicht mehr zu erblicken ist. Wenn Sebald glaubt, sich seine Sehnsucht nur aus großer Höhe erfüllen zu können, bestätigt ihm Kafka, daß es am Boden und aus der Nähe gerade ebenso aussieht. Der große Ringplatz zum Beispiel ist immer leer. Ob die Straßenbahnen vielleicht sogar führerlos dahinfahren, bleibt um Dunklen. Jedenfalls aber ist das große Tor der alten Kirche in der Mitte des Platzes weit offen, aber niemand geht ein oder aus. Das hat den Tonfall des Endgültigen.

Kommentar Bei Tisch

Die Abendgesellschaft bei Selwyn und die dabei gereichten Speisen scheinen vor allem die naturverbundene und vegetarische Ausrichtung des Hausherren zu untermauern, Leichtigkeit und Klarheit der Existenz also, so geht die Assoziation. Wer die Geschichte von Dr. Henry Selwyn zuende gelesen hat, weiß es freilich besser, und auch in diesem kurzen Ausriß versieht die stumme Haushälterin all die Spinatblättern, Brokkolisprossen in Butter und nicht zuletzt das Pfefferminzwasser bereits mit einer gewisses Fragwürdigkeit, deren Gestimmtheit von Kafkas Raben dann gründlich verschoben - nicht nur vom Salon in den Garten - und zugleich verstärkt wird. Vielleicht aber handelt es sich bei dem Raben bei Licht besehen eher um eine Dohle und also um Kafka selbst, und dessen Übermut, wenn er erst begonnen hat, den Mädchen die Haare zu zupfen, ist gänzlich unberechenbar.

Montag, 6. Dezember 2010

Kommentar Dunkel der Gasse

Eine kleine traurige Liebesgeschichte, die da aus der Gemeinschaftsfeder der beiden Dichter fließt. Der Protagonist der Erzählung ist der alte Lehrer, inzwischen längst im Ruhestand und dabei, sein Augenlicht zu verlieren. Er trägt es mit Gleichmut, wie es heißt, und doch ist er gebrochen, nicht imstande, das rettende Wort zu sagen, das ihr bestimmt wäre und das, wenn es erklänge, sein totes Auge und seine erlöschende Seele hätte beleben können. Sie, das ist bei Sebald Mme Lucie Landau, die sich im größeren Rahmen von Austerlitz dann in Marie de Verneuil verwandelt. Wer für Kafka ihr Bild erfüllt hat, wissen wir nicht.

Kommentar Höhere Schule

Die Volksschulzeit hat Selysses seines alten Lehrers wegen geliebt, nun soll er, in der Gestalt des Dafydd Elias, nachmals Jacques Austerlitz, eine höhere Schule beziehen. Offenbar ist ihr Ruf nicht der allerbeste, der Direktor ist bekannt als ein vollkommen geistesabwesender Mensch, und auch die übrige Lehrerschaft setzt sich nach einem verbreiteten Eindruck zusammen aus den absonderlichsten Gestalten. Da ist es ein wenig überraschend - aber schließlich führt Kafka inzwischen das Wort -, wenn der Vater gleichwohl die Erwartung äußert, sein Sohn möge in die besten pädagogischen Hände kommen. Daran würde es, wie ihm selbstredend versichert wurde, hier nicht fehlen. Die Meinungen darüber, was die besten pädagogischen Hände sind oder sein können, gehen allerdings weit auseinander. Wenn sich das Schulleben in dieser Anstalt, wie Dafydd schon bald herausfand, mehr oder weniger von selber in Gang hielt, eher trotz als dank der dort wirkenden Pädagogen, so wird er leicht Anhänger für die Auffassung finden, für Zöglinge dieser Alterstufe ließe sich eine bessere Pädagogik nur sehr schwer ausdenken und entwickeln.

Kommentar Verlassenes Haus

Die vielen zum Verkauf stehenden Häuser werden Selysses auf seiner englischen Wallfahrt zum Zeichen für den Verfall der Gegend, die auf eine glänzende Vergangenheit zurückschaut, wobei man auf die Natur dieses Glanzes nicht allzu sehr schauen darf. Kafka dreht die Schraube um mindestens eine Umdrehung weiter: was ist mit einem Haus, einem alten Haus, das alle Merkmale der Bewohnbarkeit aufweist und zugleich allem Anschein nach nie bewohnt wurde, die Spuren dessen unbegreiflich gut verwischt. Sebald klingt an der Oberfläche seiner Prosa immer umgänglicher als der Prager Dichter, den er versteckt in den Falten seiner weiten Satzgewänder aber immer bei sich trägt.

Kommentar Arzt

Der kleine Selysses hat diesmal mehr Glück als in Ritorno in Patria. Zwar gelingt es ihm wieder nicht, seine Bitte hinsichtlich der Brandwunde des alten Wirts vorzutragen, immerhin bleibt es ihm erspart, den Arzt tot und damit jeglicher Heilkunst enthoben aufzufinden. Der Arzt sitzt wie sonst auch auf seinem Drehsessel, entgegen seiner Gewohnheit murmelt er diesmal aber vor sich hin. In seinem von Selysses belauschten Selbstgespräch macht sich der Arzt eindeutig nicht für die Interessen seines Berufsstandes stark, wendet sich vielmehr gegen die Spitalisierung der Seele und die Pathologisierung ihrer Leiden. Selbst wenn es Selysses noch Gelegenheit finden sollte, ihn auf das Unglück des alten Wirtes anzusprechen, würde dieser Arzt womöglich in der sich nicht schließenden Wunde weniger eine ärztlich Aufgabe als einen Fingerzeig Gottes erkennen.

Kommentar Brücke

Alea jacta, eine Grenze zu überschreiten und zumal einen Fluß, ist immer ein Wagnis und eine Brücke, die sich für die Leichtigkeit des Unterfangens verbürgt, vielleicht nur eine Falle. Hans Schlag, Kafkas und Sebalds gemeinsame Gestalt, hat sich in der jagdfreien Zeit als Mäher verdingt. Es fiel viel vor mir nieder, dunkle Massen, ich schritt zwischen ihnen durch, ich wußte nicht, was es war. Schon angelangt in der Mitte der Holzbrücke bekommt er ernstliche Zweifel, nachdem er zuvor die warnenden Stimmen noch mißdeutet hatte. Vielleicht soll er für den Jäger Gracchus geopfert werden, damit der seine Ruhe findet. Anders als in Ritorno in Patria ist er vorsichtig und kehrt wieder zurück auf das feste Land, Klarheit freilich erhält er nicht, denn der Mann, den er fragen wollte, ist nicht mehr dort.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Kommentar Wohnungssuche

Die Ausgewanderten, der Band bestehend aus vier langen Erzählungen, beginnt damit, daß der noch junge Selysses und seine Gefährtin – im reiferen Alter ist Selysses immer allein unterwegs – auf Wohnungssuche sind. Trotz der Verabredung meldet sich der Hausherr auf das Klingeln und Klopfen hin nicht. Kafka sorgt für einen anderen, allerdings recht unkonventionellen Zugang zum Gelände, man erreicht es mühselig kriechend durch ein niedriges Türchen, nicht viel höher als einer der Drahtbogen beim Croquetspiel. Immerhin treffen sie auf diesem Wege auf den Hausherrn, aber ist er es auch, oder hat sich vielleicht ein Unbefugter eingeschlichen, sein Benehmen ist zwielicht wenn nicht gar ungehörig, er klopft Marie, die ihm doch gänzlich unbekannt war, leicht auf die Wange. Das geht dahin. In Kafkas Anwesenheit kommt es selten zu Entscheidungen, obwohl alles schon entschieden scheint und alle Urteile gesprochen, die Entscheidung über die Vergabe der Wohnung muß auf jeden Fall vertagt werden.

Kommentar Autobiographie

Die Akteure der Londoner City in ihren nachtblauen Anzügen, gestreiften Hemdbrüsten und grellfarbenen Krawatten erscheinen als eine in keinem Bestiarium beschriebene Tierart, verwandt sind sie offenbar aber dem halben Dutzend besonders kaltblütiger Fische, angetan mit gestärkter Hemdbrust, Krawatte und Frack, die an einer gedeckten Tafel sitzen, im Begriff, einen ihrer Artgenossen zu verspeisen, wie es uns eine Gravüre Grandvilles vorführt. Scharf abgehoben von der schwankenden Horde sitzt am Rande ein vereinzelten Mensch: Austerlitz. Gefällige Konventionen teilt er nicht, und so nimmt er ohne Umschweife das Gespräch mehr oder weniger dort wieder auf, wo es einst, vor langen Jahren, abgebrochen war. Wieder geht es um das Schreiben, mit Worten, die von Kafka stammen könnten, entwirft er den Plan einer selbstbiographischen Untersuchung und antizipiert ihr Scheitern im Irrsinn, ähnlich einem Kosakentanz, wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde so lange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet. Das sich unter ihr bildende Grab ist freilich Bedingung einer jeden selbstbiographischen Untersuchung.

Autobiographie



Samstag, 4. Dezember 2010

Kommentar Frei und ledig

Selysses schlendert durch die Gassen von Ajaccio, versunken in ziellose Überlegungen und Phantasien über das Leben, das sich hinter den Mauern der Häuser rechts und links des Weges abspielen mag. Kafka verleitet ihn, zu näherer Erkundung in eines der Tore einzutreten, sogleich aber wird er von dem an einer Glasscheibe klebenden großen, offenbar aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnittenes Bild eines ihm von fern her vertrauten italienisches Städtchen abgelenkt, das ursprüngliche Ziel ist vergessen. Trotz aller Anstrengung kann er sich aber nicht entsinnen, welches Städtchen es ist, und auch der Hauswart, dem das Bild nichts als ein Ärgernis ist, kann nicht weiterhelfen. Grillparzer, den Kafka bewundert und den Selysses, wie er in den Schwindel.Gefühlen bekennt, als reiseunlustigen Reisenden besonders schätzt, steuert Denkanstöße bei, ob sie zum Ziel führen, erfahren wir nicht.

Kommentar Trunksucht

Dem Thema der Trunksucht widmet sich Sebald in der Erzählung Ritorno in Patria eindringlicher als irgendwo sonst in seinem Werk. Getrunken wird beiderseits der Grenze, im Tirol nicht weniger als im Allgäu. Im Bahnhof von Innsbruck sind es die philosophisch gestimmten Sandler, in der Ortschaft W. trinken die Bauern bis tief in die Nacht hinein und oft bis zur Bewußtlosigkeit. Ihnen gesellt Sebald den Jäger Hans Schlag zu, allerdings an einen separaten Tisch und erkennbar maßvoll im Alkoholgenuß. Den tauscht Kafka nun aus gegen einen nicht näher benannten anderen. Oder hat ein Tausch nicht stattgefunden, steuert Kafka nur weitere Erkenntnisse bei bezüglich des Jägers? Er könnte sehr wohl sehr kräftig sein und wird immer kräftiger werden. Vielleicht hat er Trinkeraugen, obwohl er kein Trinker ist. Und wenn wir uns vor Augen halten, daß Hans Schlag tateinheitlich auch der Jäger Gracchus ist, so könnte es wohl sein, daß ihm, ungeachtet des Unrechts, das er begangen hat, Unrecht geschieht, vielleicht hat ihn das so verschlossen gemacht, vielleicht ist ihm immer Unrecht geschehn.

Freitag, 3. Dezember 2010

Kommentar Am Quai

Ein einsamer Fremder wird im Dunkel der einfallenden Nacht von Selysses am Ufer des Meeres beobachtet. Wer ist es? Anscheinend stellt Selysses sich diese Frage, immer mehr aber scheint es dann alsbald, als stiegen die weiteren Fragen aus dem Inneren des Fremden auf, als Teil einer hilflosen Selbstbefragung, in der er sich zu verlieren droht. Sie wenden sich dem Fluß zu und heben die Arme. Warum hebt ihr die Arme, statt uns in sie zu schließen? Einer scheint diesen Ruf zu hören, Selysses streckt sch Verlierenden die hilfreiche Hand entgegen und rettet ihn aus dem kafkaesken Sog. Wieder zu sich gekommen, sieht der Fremde klar, weiß Bescheid über sich und seine Zukunft, aus Józef Korzeniowski ist Joseph Conrad geworden, der englischen Sprache, wie die Welt weiß, über alle Maßen mächtig, Dichter des Meeres und der Dunkelheit des Herzens. Ihm ist das Fünfte Teil der Ringe des Saturn gewidmet.

Am Quai